Kritik

«Herdling» im Test: Eine zauberhafte Reise, der es an Höhepunkten fehlt

Im Schweizer Game «Herdling» treibst du eine Herde büffelähnlicher Wesen durch eine malerische Welt. Die Reise hat etwas Meditatives, driftet aber gelegentlich ins Monotone ab.

Mit Apa ziehe ich weiter durch die merkwürdige urbane Umgebung, die mich stark an City 17 aus «Half-Life 2» erinnert. Einfach ohne Aliens und Kampfroboter, die auf mich schiessen. Es dauert nicht lange und ich begegne weiteren Calicorns. Mal befreie ich sie aus abgesperrten Gehegen, mal überzeuge ich sie mit gepflückten Früchten von meinem guten Wesen.

«Herdling» ist ein lineares Game. Die Welt wirkt auf den ersten Blick offen, aber meist geht es nur in eine Richtung. Ich entscheide höchstens, ob ich links oder rechts um einen kleinen Hügel gehe. Nur einmal laufe ich mehrmals im Kreis, weil mir visuelle Indikatoren fehlen und ich weder weiss, wo ich hinmuss, noch was ich tun soll.

Um meine Herde anzutreiben, habe ich verschiedene Kommandos. Neben dem normalen Antreiben kann ich sie langsam laufen lassen und komplett stoppen, wenn ich mal was ohne sie auskundschaften möchte. Gelegentlich kann ich sie rennen lassen. Bei gewissen Feldern und Sträuchern ist das sogar nötig, um voranzukommen.

So treibe ich meine flauschigen Freunde durch eine malerische Steppenlandschaft, die mich an Dokus über die Mongolei erinnert. Meine Aufgabe ist es, die Tiere sicher an ein Ziel zu bringen. Welches das ist, weiss ich zwar nicht, aber sowohl mein Hirte als auch die Calicorns scheinen sich darauf zu verlassen, dass am Ende der Reise ein schöner Fleck auf sie wartet.

Immer wieder navigiere ich die Herde durch kurvige Passagen, mit spitzen Metallstücken an den Ecken. Dort muss ich vorsichtig sein, damit sich die Tiere nicht verletzen. Passiert das doch mal, kann ich sie mit Früchten wieder aufpäppeln. Kein Heilmittel gibt es gegen den Sturz in eine Gletscherspalte, als ich eine windige Bergspitze erklimmen will. Ich kann nur noch zusehen, wie eins meiner Wollknäuel in die Tiefe stürzt. RIP Apa.

Was ein emotionaler Moment sein soll, nehme ich mit einem Achselzucken hin. Eine echte Bindung entsteht in der kurzen Spielzeit von rund vier Stunden bei mir nicht. Ich kann die Tiere zwar streicheln, sie mit Ornamenten schmücken, die ich unterwegs finde und mit ihnen Ball spielen. Für mich ist das dennoch zu wenig, um eine Träne zu verdrücken.

Vielleicht hätte es geholfen, wenn ich die Gesichter meiner Herdentiere besser sehen würde. Aber dafür ist die Kamera normalerweise zu weit weg und der Detailgrad zu niedrig. Stattdessen geht lediglich der Gedanke durch meinen Kopf, dass ich nun keinen «perfekten Run» mehr schaffe. Bei minimalen Gameplay-Elementen und ausser ein paar Bildern am Lagerfeuer, keinerlei Story, hätte eine intime Beziehung zu den Tieren das Erlebnis packender gemacht.

Auch bei den Calicorns bin ich hin- und hergerissen. Ihr Fell wirkt auf den ersten Blick wie ein Grafikfehler oder wie, wenn jemand zu aggressiv nachgeschärft hätte. Andererseits sieht es auch schön flauschig aus und die Fähigkeit, die Farbe zu wechseln, verleiht den Tieren etwas Fabelhaftes. Einen gewissen Wiedererkennungswert kann ich dem Spiel nicht absprechen.

«Herdling» ist verfügbar ab dem 21. August für PC, PS5, Xbox Series X/S, Game Pass und Switch. Die PC-Version wurde mir von Okomotive zur Verfügung gestellt.

Fazit

Meditativ und monoton liegen nahe beieinander

In «Herdling» steht das Erlebnis und nicht das Gameplay im Vordergrund. Das Navigieren der Herde durch die verwunschene Landschaft besticht durch Bild und Ton statt komplexe Mechaniken. Viel mehr als gelegentlich Hindernissen ausweichen und minimale Schalterrätsel bietet das Spiel nicht.

Der Vergleich mit dem kultigen «Journey» liegt nahe. Während sich mir dort zahlreiche Momente in mein Gedächtnis gebrannt haben, fehlt es «Herdling» an Höhepunkten. Visuell hat es zwar ein ungewöhnliches Design, es hätte aber mehr Wow-Momente bedurft, wie beim Verlassen der Stadt oder dem Gipfelaufstieg.

Der Sound hingegen untermalt die Reise mit den liebenswerten Calicorns perfekt. Schade, schafft es das Spiel nicht, eine stärkere Bindung mit ihnen aufzubauen. Dann hätten einige tragische Szenen sicher einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

«Herdling» hat mich dennoch auf eine stimmungsvolle Reise mitgenommen, die ich trotz gelegentlicher Flaute gerne angetreten bin.

Pro

  • zauberhafte Welt
  • stimmungsvoller Soundtrack
  • gute Länge

Contra

  • fehlt an Höhepunkten
  • teilweise zu wenig Anhaltspunkte, wo es weitergeht

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Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken. 


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