
Kritik
«Bye Sweet Carole» ist der schönste Albtraum, den ich seit Langem gespielt habe
von Kevin Hofer

Fünf Epochen, ein Apartment. In «The Berlin Apartment» erlebe ich die Welt im Mikrokosmos durch diverse Augenpaare. Die spielerische Serienanthologie beeindruckt durch emotionale Tiefe.
Kolja tauscht 1989 als Papierflieger getarnte Briefe über die Mauer aus. Josef packt seine wichtigsten Schätze, bevor er 1933 aus Nazideutschland flieht. 1945 versucht das Mädchen Mathilda mit spärlicher Dekoration, Weihnachtsstimmung in ihrer vom Krieg gebeutelten Familie aufkommen zu lassen. Toni wiederum will 1967 ihren Roman über eine Kosmonautin vor der Zensur durch die DDR-Zentralverwaltung schützen. Und 2020 hilft Dilara ihrem Vater während des Lockdowns dabei, die Wohnung zu renovieren, in der alle gelebt haben.
Willkommen in «The Berlin Apartment». Ein Spiel, das mit seinen kurzen Geschichten unter die Haut geht.
Langweilig ist das. Oder ist es doch besser als Schule? Als Dilara stehe ich in einer heruntergekommenen Wohnung in Berlin und schaue mich um. Mein Vater hat den Auftrag gefasst, sie zu renovieren. Ganz schön gross, dieses Apartment, stelle ich fest. Brauchen reiche Leute wirklich so viel Platz? Reiche Leute wollen immer mehr von allem, erklärt mir mein Vater. Ob wir auch mal reich werden können, frage ich. Dafür müssten wir viele Wohnungen renovieren, entgegnet er. Es sind solche Dialoge, die die Lebensrealitäten der diversen Personen, die im Berlin Apartment gewohnt haben, scheinbar nebenbei eindrücklich aufzeigen.

Statt Freizeit steht für Dilara also Arbeit an. Ich belege Brote, werfe alte Gegenstände ins Schuttrohr oder ziehe Tapeten ab. Dabei stosse ich auf einen als Papierflieger getarnten Brief. Daraufhin erzählt mir mein Vater die Geschichte von Kolja, der 1989 hier gelebt hat. Oder als ich im Kamin eine verbrannte Weihnachtsdeko entdecke, höre ich die Geschichte von Mathilda, die nach dem Ende des 2. Weltkriegs in der Wohnung ums Überleben kämpfte.

Der Storyteil von Dilara und ihrem Vater verknüpft so geschickt die weiteren Abschnitte und führt in vergangene Zeiten über. Ein erzählerisch einfacher Kniff, der hier exzellent ausgeführt ist. Es wirkt nicht gezwungen, sondern natürlich.
Dabei gelingt es dem Spiel auf Anhieb, mich emotional an die Charaktere zu binden. Die Episode um Josef beginnt etwa damit, dass er seinen Kanarienvogel freilässt. Eine Handlung, die sich gleichzeitig mit seiner aktuellen Situation deckt. Auch er muss zu neuen Ufern aufbrechen. Während der Vogel durch das Freilassen seine Freiheit erlangt, geht es für Josef darum, seine Freiheit durch Flucht zu erkämpfen. Denn nach der Machtübernahme der Nazis 1933 wird er als Jude verfolgt.

Das Spiel ist gespickt mit solchen Metaphern, die die Erzählung dichter machen und mich näher an die Charaktere bringen. Besonders angetan hat es mir der introvertierte Kolja, der mich mit seiner tollpatschigen, schrägen Art an mich selbst erinnert. Die Auseinandersetzungen mit seinem sprechenden Goldfisch Erich sind genial. Er weist mich immer wieder darauf hin, was für ein Feigling ich doch bin – und dies in breitem Sächsischem Dialekt. Das zaubert mir während des nur etwa 40-minütigen Abschnitts immer wieder ein Lächeln auf die Lippen.

«The Berlin Apartment» ist ein kurzes Erlebnis. Nach etwas mehr als dreieinhalb Stunden sehe ich den Abspann. Länger muss das Spiel auch nicht sein. Es findet die perfekte Balance aus Erzählung und Gameplay.
Spielerisch bietet «The Berlin Apartment» wenig, aber mehr als die meisten Walking Simulators. Als Dilara kloppe ich mit einem Hammer Fliesen von der Badezimmerwand. Die Papierflieger von Kolja manövriere ich mit den Sticks durch Turbulenzen. In Mathildas Korb sammle ich Dekogegenstände und hänge sie auf. Die Siebensachen von Josef packe ich in Tetris-Manier in den Koffer.

Das ist alles nicht herausfordernd, hält mich aber bei der Stange. Einzig ein Gameplay-Element finde ich komplett unnötig, sogar nervtötend: Als Toni bin ich gezwungen, das Manuskript für mein Buch umzuschreiben – die Zentralverwaltung der DDR will das so. Damit Toni auf ihrer Schreibmaschine tippt, muss ich irgendeinen Knopf am Controller drücken. Für jeden einzelnen Buchstaben. Warum nur? Hirnloses Knöpfe-Drücken stand noch nie synonym für gutes Gameplay. Hoffentlich ändern die Entwickler das noch für den definitiven Release.

Optisch setzt das Spiel auf einen comicartigen Stil. Die intensiven, teils übersättigten Farben kontrastieren mit den düsteren Themen, die behandelt werden. Die Entwickler haben sich aber wohl bewusst dafür entschieden. Das zeigt sich etwa bei der Episode um Mathilda. Die von den Entbehrungen des Krieges gebeutelte Familie sitzt zunächst in einer tristen, farblosen Wohnung. Erst als ich nach und nach die Dekogegenstände aufhänge, erstrahlt die Wohnung in neuem Glanz. Die Gestaltung ist also auch immer Teil der Erzählung, was sich auch in der sich stets verändernden Wohnung äussert.

Einziger Kritikpunkt bei der optischen Präsentation sind einige Unschönheiten. So schimmern immer mal wieder Hände durch Gegenstände. Oder eine Schachtel, die ich aufhabe, versperrt mir die Sicht.

Zurückhaltender als die Grafik sind der Soundtrack und die Soundeffekte. Diese erklingen meist dezent im Hintergrund. Ich nehme sie nur wahr, wenn ich mich bewusst darauf konzentriere. Dann untermalen sie die Szenerie gut.
Besonders toll finde ich die deutsche Sprachausgabe. Ich merke, dass hier ein deutsches Studio hinter der Produktion steckt. Die Sprecherinnen und Sprecher machen einen tollen Job und verkörpern die Charaktere glaubwürdig. Besonders unter die Haut ist mir die Mutter von Mathilda gegangen. Ihre Verzweiflung ob der hoffnungslos wirkenden Situation nach der Kriegsniederlage Deutschlands kommt in den wenigen Sätzen enorm gut zur Geltung.

Auch die englische Vertonung ist gut, kommt aber nicht an die deutsche heran. Bei der Sprachausgabe ist mir ein weiterer Bug aufgefallen: Nachdem ich von Englisch zu Deutsch gewechselt hatte, sprang sie für eine kurze Passage wieder auf Englisch zurück.
«The Berlin Apartment» erscheint am 17. November für PlayStation 5, Xbox Series sowie PC. Das Game wurde mir von btf zu Testzwecken für den PC zur Verfügung gestellt.
«The Berlin Apartment» ist mehr als nur ein Spiel; es ist eine emotionale und eindringliche Zeitreise durch die deutsche Geschichte, erzählt im Mikrokosmos einer einzigen Wohnung. Das Spiel überzeugt durch seine fünf kurzen, aber emotional tiefgehenden Episoden, die durch eine geschickte Rahmenhandlung elegant miteinander verwoben werden.
Der stilisierte Comic-Look und die hervorragende deutsche Sprachausgabe schaffen eine dichte Atmosphäre und bringen die Schicksale der Bewohner eindrücklich nahe. Spielerisch bleibt der Titel zwar anspruchslos und leistet sich mit einer besonders nervtötenden Mechanik einen klaren Fehltritt, doch dies schmälert das Gesamterlebnis kaum. Im Vordergrund stehen die berührenden Geschichten und Charaktere, die «The Berlin Apartment» zu einem kurzen, aber unvergesslichen und absolut empfehlenswerten Erlebnis machen.
Pro
Contra
Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.
Welche Filme, Serien, Bücher, Games oder Brettspiele taugen wirklich etwas? Empfehlungen aus persönlichen Erfahrungen.
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