
Hintergrund
Uncanny Valley: Wenn dich computeranimierte Fratzen in deine Alpträume verfolgen
von Luca Fontana
Miquela Sousa existiert nicht. Miquela Sousa hat eine Musikkarriere, ein Instagram-Following und einen Youtube Vlog. Der virtuelle Star ist jetzt bei einer Hollywood-Agentur unter Vertrag. Es ist Zeit, dass wir uns als Gesellschaft Fragen zu virtuellen Stars stellen. Und zur Menschlichkeit.
Miquela nennt sich manchmal Li'l Miquela. Sie ist Influencerin mit 2.2 Millionen Followern. Miquela portraitiert ein Paar, das sich selbst als Magierinnen bezeichnet. Bei den beiden hat sie ein Foto ihrer Aura anfertigen lassen. Sie singt.
Miquela existiert nicht.
Sie ist eine am Computer generierte Figur, die sich soeben einen Vertrag mit der Talent Agency Creative Artists Agency, besser unter der Abkürzung CAA bekannt, gesichert hat. CAA soll sie in allen Bereichen der Medien vermarkten, von Fernsehen über Filmauftritte über Werbespots und was Miquelas Machern und der CAA sonst noch so einfällt. Miquela, notabene eine der laut Time Magazine einflussreichsten Personen im Internet 2018, ist da flexibel.
Miquela ist im Jahre 2016 erstmals an die Öffentlichkeit getreten. Ohne Kommentar hat sie begonnen, Bilder auf Instagram zu posten. In den folgenden Jahren hat sie sich von einer Seltsamkeit im Internet zum Multimedia-Phänomen gemausert. Die virtuelle Figur geht ganz offen damit um, nicht echt zu sein, bezeichnet sich selbst als «Change seeking robot».
Miquela hat mit Samsung zusammengearbeitet, bezeichnet sich selbst als Mitglied von #teamGalaxy. Das, obwohl alle ihre Mirror Selfies mit einem iPhone 11 geschossen sind.
Hinter Miquela steht das Technologie-Unternehmen Brud, dessen offizielle Website ein Google Doc ist. Brud bezeichnet sich laut eigenen Angaben als «Transmediales Studio, das sich auf digitales, charaktergetriebenes Storytelling» fokussiert. In der Praxis bedeutet das, dass Brud animierte Figuren schafft und die Technologie hinter ihnen weiterentwickelt.
So weit feststellbar, ist Miquela eine Mischung aus Animation und Motion Capture. Wenn sie mit der echten Welt interagiert, mit der Kerze der Magierinnen oder so, dann war da wahrscheinlich eine Schauspielerin, deren Statur der von Miquela am nächsten kommt. Sie hat die Kerze angezündet. Sie umarmt Leute und nimmt physische Objekte in die Hand. Die Animatoren bei Brud nehmen dann das Bildmaterial und ersetzen die Schauspielerin durch Miquela.
An anderen Stellen wird Miquela nur am Computer animiert. Da fällt sie ins Uncanny Valley, bewegt sich zwar anatomisch korrekt für einen Menschen, aber sieht trotzdem falsch aus. Selbst wenn sie sich über ihr Make-Up und ihre verschwitzte Stirn beschwert. Im nächsten Atemzug dann spricht sie darüber, dass sie sich verletzt fühlt, da jemand etwas wie «Stell dir vor, jemanden getroffen zu haben, der nicht echt ist» getwittert hat.
Miquela ist nicht das einzige Projekt, das Brud auf die Welt losgelassen hat. Da sind Bermuda und Blawko. Die beiden waren mal zusammen, die Trennung war hart. Das digitale Drama um die drei gross.
Miquela beschreitet auf narrativer Ebene Neuland. Die 1998 gegründeten Gorillaz sind zwar auch eine virtuelle Band, bis auf wenige Ausnahmen waren sie aber nur in ihrer eigenen virtuellen Welt zugegen. Erst als Bandmitglied Noodle Botschafterin des Panasonic Jaguar Racing Teams wurde, hat die junge Frau auch ausserhalb der virtuellen Storywelt der Band für Furore gesorgt. Damit ist Noodle eine der ganz seltenen Ausnahmen, in denen die Mauer zwischen virtueller Welt und unserer Welt durchbricht und das dann zudem nicht seltsam wirkt.
Miquela hingegen schlägt in die Youtuber-Kerbe. Ihre Realität in der unsrigen ist keine Ausnahme, aber maximal inszeniert. Ihre Macher gehen offen damit um, machen es sogar zu einem Story-Element, wenn die virtuelle Sängerin von ihrem liebsten Party-Trick spricht: Da sie ein Roboter ist, kann sie mit ihrer Stimme Dinge tun, die ein Mensch nicht kann. Sie nimmt das zum Anlass, ihren musikalischen Stil zu hinterfragen.
Genau dieser Widerspruch zwischen «Ich bin nicht echt» und «Mein Eyeliner ist verlaufen, da ich so viel geweint habe» ist das faszinierende an Miquelas digitalem Leben.
Computeranimation wird immer besser. Allerdings gilt es noch ein grosses Hindernis aus dem Weg zu räumen: Die für Animation benötigte Rechenzeit. Denn Dinge wie Haar oder Haut – vor allem aber Details wie Sommersprossen oder Poren – sind aufwendig und brauchen ewig lange, um simuliert und anschliessend gerendert zu werden.
Ein Beispiel: Heb deine Hand bei hellem Licht nah vor dein Gesicht. Schau deinen Handrücken an. Achte mal auf die Poren und Linien. Dann balle deine Hand zur Faust. Siehst du, wie sich alles verändert? Wie die Poren in die Länge gezogen werden und wie sich Muskelstränge und Sehnen unter der Haut bewegen? Oder wie das Licht durch die Hautschichten wandert und rötlich zurückreflektiert wird? Das zu animieren, ist aufwändig. Deine Faust alleine wäre schon Motion Capture. Die enorm detaillierte Textur, die so simuliert werden müsste, dass sie sich wie deine Haut auf der sich zur Faust ballendenden Hand verhält, ein gigantischer Recheneffort.
Wenn da aber eine echte Schauspielerin hinhalten könnte, bei der im Wesentlichen nur das Gesicht ersetzt werden müsste, dann könnte extrem viel Zeit und Rechenpower gespart werden. Das bedeutet in der Folge, dass Content schneller und in besserer Qualität generiert werden kann.
So geschehen bei Miquela. Wer die Schauspielerin hinter der virtuellen Prominenz ist, ist allerdings nicht bekannt. Ein Gerücht hat im vergangenen Jahr die Runde gemacht, dass es sich bei der Schauspielerin Miquelas um Emily Bador handelt, da sie Miquela stark ähnle.
Genau darin liegt der Reiz der virtuellen Stars: Sie können schnell und mit konsistenter Qualität eingesetzt werden. Filmdreh? Kein Problem. Irgendwer geht in einem Motion Capture Suit über die Bühne, Miquelas virtuelles Modell wird über Nacht gerendert und am kommenden Morgen ist die Szene fertig.
Miquela lässt alles mit sich machen.
Miquela wird nicht krank. Sie altert nicht. Braucht keine Pausen. Sie passt in jedes Kleidungsstück und in jedes Kostüm, kann jeden noch so unmöglichen Stunt ausführen. Sie hat keine Allüren und keine Launen. Nur jene, die ihre Programmierer wollen. Und die beherrscht sie in Perfektion.
Miquela ist die vollkommene Darstellerin.
Hollywood hat sich dem Thema schon angenommen. In «The Congress» aus dem Jahre 2013 wird die Story erzählt, wie eine fiktive Version der Schauspielerin Robin Wright sich digitalisieren lässt.
Die realistischen Implikationen dieses Szenarios sind wunderbar und gleichzeitig grauenhaft. Ein Beispiel: Technologisch gesehen steht Pornografie einer gescannten Person ohne ihre Zustimmung nichts im Wege. Denn Technologie hat so die Tendenz, früher oder später für jeden zugänglich zu sein. Ein Motion Designer des New York Magazine hat Miquela täuschend echt innerhalb von 48 Stunden nachgebaut. Mit dem entstandenen Modell könnte er anstellen, was er will.
Es wäre vermessen, zu denken, dass nie Missbrauch stattfinden wird. Irgendwo da draussen gibt es bestimmt Pornografie mit Miquela, denn Rule 34 ist eine Realität.
Angenommen, es stellt jemand Miquela-Pornografie her. Oder allgemeiner: Jemand macht ein Video, das den Machern nicht in ihre Story-Welt passt. Keine grosse Sache. Schlimmstenfalls findet ein Gerichtsverfahren wegen Copyright-Verletzung statt und jemand zahlt eine Busse. Denn Miquela existiert nicht. Sie ist ein Produkt und hat entsprechend keine Gefühle – und keine Würde.
Schwieriger wird es im Fall, wie er im Film «The Congress» beschrieben wird. Wenn eine echte Schauspielerin digitalisiert wird und dann Material mit ihrer virtuellen Selbst auftaucht, ist nicht nur ein Copyright angegriffen, sondern auch direkt die Würde eines Menschen. Damit begeben wir uns auf eine Ebene, die bestenfalls dünnes Eis ist.
Wir brauchen, sollte sich das abzeichnen, gesetzliche Grundlagen für die Verwendung eines solchen Modells. Bei einer entsprechenden Legislatur treffen aber die Individualität, die freie Entfaltung des eigenen Selbst und das Gesetz aufeinander. Sprich: Pauschal Pornografie mit virtuellen Modellen, ob echte oder erfundene, zum Schutz der Persönlichkeit zu verbieten, ist nicht gangbar. Denn nur ein Blick in eine Modelkartei zeigt auf, wo auch ohne Pornografie die persönlichen «No Go» liegen.
Ein Beispiel: Ivonne ist bereit, Aktaufnahmen von sich anfertigen zu lassen. Dana hingegen nicht. Von Akt bis Pornografie ist es noch ein weiter Weg. Ein virtuelles Modell von Dana aber könnte locker nackt in ein Bild gerendert werden. Würde Dana das mögen? Ivonne wäre das vielleicht eher wurscht, aber Dana wäre in ihrer Würde verletzt. Ein Gesetz, das also Aktbilder verbietet, ist nicht gangbar, denn das würde Ivonne vielleicht nicht gefallen.
Was bedeutet das auf Miquela bezogen?
Technologisch gesehen sind die Modelle Miquelas und das einer echten Person identisch. Daher ist es auch fehl am Platze zu sagen: «Ist egal, ist ja nur ein Computerding». Andererseits darf die individuelle Definition der eigenen Würde eines Menschen auch nicht angetastet werden. Wir brauchen keine Moralpolizei, denn das geht historisch gesehen nach hinten los. Die Definition der eigenen Würde muss zwingend bei einer Person selbst bleiben. Mit den Ausnahmen des Jugendschutzes und des Schutzes derer, die sich nicht selbst schützen können.
Spannend ist dann auch ein Nebengedanke dieses ganzen lauten Gedankens: Wenn wir einem virtuellen Modell einer echten Person eine Würde zugestehen, die unantastbar ist, dann stellt sich eine Frage: Haben virtuelle Stars eine Würde? Wer definiert diese? Die Autoren von Miquelas Leben?
Antworten auf diese Fragen habe ich keine, leider. Gerne würde ich das Problem innerhalb einiger weniger Zeilen lösen, aber das scheint unmöglich. Daher: Ich möchte diesen Artikel als Gedankenanstoss verwenden. Wo siehst du die Linie? Hast du einen Lösungsvorschlag?
So. Fertig. Miquelas Klingelton ist übrigens das Communicator Jingle aus «Kim Possible».
Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.