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Gratisfernseher Telly zeigt: Wir leben in einer Werbe-Dystopie

David Lee
2.10.2025

Wenn du nichts bezahlst, foltern wir dich mit Werbung. Das Prinzip ist bekannt, aber Telly treibt es auf die Spitze. Das Geschäftsmodell hört sich an wie in einem dystopischen Film.

Es gibt zu viel Werbung in dieser Welt. Schätzungen zufolge ist jeder Mensch im Durchschnitt 5000 bis 13 000 Werbebotschaften pro Tag ausgesetzt. Das meiste filtert unser Gehirn sogleich heraus – aber unterschwellig bleibt immer etwas hängen. Werbung ist Gehirnwäsche. Und wir haben längst alle genug davon.

Was tun, wenn du Werbung zeigen willst, aber genau weisst, dass sie niemand sehen und hören will? Eine Strategie ist: Zwang. Du fährst als Tourist Strassenbahn und willst zum Fenster hinaus schauen? Tja, Pech für dich, dass das Fenster mit einer Werbung für ein Tourismus-Angebot zugekleistert ist. Da guckst du doch besser auf dein Smartphone, zum Beispiel ein Youtube-Video. Das Video gibt es, nachdem du zuerst zwei Werbungen geschaut hast. Du hast einen Werbeblocker, Schweinchen Schlau? Wir haben einen Werbeblockerblocker. Du hast einen Werbeblockerblockerblocker? Kein Problem, hier ist unser Werbeblockerblockerblockerblocker.

Werbung statt Aussicht, hier in Zagreb.
Werbung statt Aussicht, hier in Zagreb.
Quelle: Shutterstock/Blue Corner Studio

Als TV-Konsument wirst du sowieso genötigt, Werbung anzuschauen, sei es durch kurze Unterbrecherwerbung, durch Sponsoring bei Sportübertragungen und neuerdings selbst beim Replay. Unfreiwillig mit Werbung zugeballert werden, ist heute nichts Besonderes, sondern Standard. Doch das Geschäftsmodell von Telly ist selbst für die heutige Zeit krass.

Der Zwang wird offensichtlich

Das Prinzip von Telly: Du bekommst gratis einen Fernseher, wirst aber dafür gezwungen, auf einem Zweitbildschirm permanent Werbung anzuschauen. Das klingt wie eine Geschichte aus einem dystopischen Roman, ist aber in den USA seit etwas mehr als zwei Jahren Realität. So lange existiert Telly bereits.

Emma Roth, Journalistin bei The Verge, hat sich das kürzlich genauer angeschaut. Das Ironische dabei: Während ich ihren Artikel lese, blendet mir The Verge sechs animierte Werbungen sowie ein automatisch startendes Video ein. Obwohl ich bei The Verge ein Abo bezahle und eingeloggt bin.

Aussergewöhnlich sind bei Telly schon die Nutzungsbedingungen. Sie schreiben vor, den Fernseher permanent am Internet angeschlossen zu halten und ihn als primäres TV-Gerät zu verwenden. Der Fernseher hat ein Mikrofon und eine Kamera eingebaut, die es ermöglicht, zu kontrollieren, ob tatsächlich jemand hinguckt, wenn der Fernseher läuft. Die Nutzungsbedingungen untersagen jegliche Versuche, die Werbung zu umgehen oder zu blockieren. Bei Verstössen kann der Dienst abgeschaltet werden und du musst den Fernseher zurückgeben. Tust du es nicht, werden deiner Kreditkarte 1000 US-Dollar belastet.

Tellys Werbespot beginnt so: «Over time, things change. And usually, for the better. So what happened to the TV? We keep evolving.»

Smart TVs seien dumm, heiss es weiter im Video. Nicht so Telly. In den Fernseher integriert ist eine Soundbar und darunter ein Zweitbildschirm. Dieser blendet Informationen wie News ein oder ermöglicht, die Smart-TV-Apps zu bedienen. Das hört sich zunächst nach einer sinnvollen Idee an.

Die beiden Bildschirme sind durch eine Soundbar verbunden.
Die beiden Bildschirme sind durch eine Soundbar verbunden.
Quelle: Telly

Bloss: Der Hauptzweck des Zweitbildschirm ist es, permanent Werbung einzublenden. Und weil er auch für Dinge da ist, die du tatsächlich brauchst, kannst du ihn nicht abdecken. Abgesehen davon, dass es die Nutzungsbedingungen verbieten. Der Zweitbildschirm läuft immer, selbst wenn der TV ausgeschaltet wird.

Zuschauer als Versuchskaninchen

Warum gibt es Leute, die sich das antun? Einen 55-Zoll-Fernseher bekommst du für unter 500 Franken, und auch eine Soundbar kostet nicht die Welt. Aber für viele ist bereits das unerschwinglich. In den USA kann sich mindestens ein Drittel aller Erwachsenen eine unerwartete Ausgabe von über 400 Dollar nicht leisten.

Anteil erwachsener US-Amerikaner, die sich eine Notfallausgabe von 400 Dollar leisten könnten.
Anteil erwachsener US-Amerikaner, die sich eine Notfallausgabe von 400 Dollar leisten könnten.
Quelle: Federal Reserve

Die Nachfrage wäre damit geklärt. Aber warum gibt es das Angebot? Die Telly-Kundschaft hat vermutlich nur zu einem kleinen Teil Geld für die Dinge, die sie in den Telly-Werbungen permanent angucken muss. Warum zielt die Werbung ausgerechnet auf die, welche sich wenig bis nichts kaufen können?

Meine Vermutung: Diese Werbung wird nicht in erster Linie verbreitet, um den Verkauf von Produkten anzukurbeln, sondern verfolgt andere Zwecke. Insbesondere lässt sich das Nutzerverhalten erforschen, oder weniger freundlich gesagt: überwachen. Dazu taugen auch Menschen ohne Kaufkraft.

Die Datenschutzbestimmungen von Telly bestätigen das. Es werden so viele Daten gesammelt wie nur irgend möglich, und sie werden ohne erkennbare Einschränkungen an die Werbetreibenden und sonstigen Partner weitergegeben. Die Business-Partner schalten die Werbung vermutlich, um herauszufinden, wie effiziente Werbung aussehen muss. Es ist ein Marktforschungs-Experiment mit armen Leuten als Versuchskaninchen.

Wahrer Luxus wird in Zukunft nicht ein 85-Zoll-OLED sein, sondern das Privileg, sich von Werbung freikaufen zu können.

Titelbild: Telly

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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