
Hintergrund
Neo aus The Matrix hat keine Persönlichkeit – oder doch?
von Luca Fontana
Von der roten Pille bis zum falschen Steak – kaum ein Film hinterfragt unsere Komfortzone so radikal wie «The Matrix». Jetzt kehrt er mit voller Wucht auf die IMAX-Leinwand zurück.
Stille. Nur Wind. Dann ein Schuss. Noch einer. Und noch einer. Die Zeit verlangsamt sich. Die Kamera kreist. Und plötzlich sehen wir es – das Unmögliche: einen Menschen, der nicht rennt. Nicht springt. Sondern sich in der Luft verbiegt wie eine Welle. Rücken durchgedrückt, Arme ausgestreckt, der Boden nur Zentimeter entfernt. Kugeln fliegen an ihm vorbei, elegant und tödlich zugleich. Aber: Er weicht ihnen aus.
Er weicht ihnen aus.
In diesem Moment wird klar: Die Regeln dieser Welt sind verhandelbar. Was du für Physik hältst, könnte nur Code sein. Und was für dich Realität ist, ist vielleicht gar keine. Vielleicht ist sie … die Matrix.
Manche Regeln sind leider auch ausserhalb des Films verhandelbar. Zum Beispiel, welcher Film als nächstes auf der IMAX-Leinwand gezeigt wird. Beim grossen Voting vor einem Monat hattet ihr euch für «Inception» entschieden. Den hätten wir nur zu gerne gezeigt, doch aktuell werden keine Nolan-Filme für IMAX-Fassungen freigegeben. Das gilt auch für den Zweitplatzierten «The Dark Knight». Also rückt die Nummer drei nach – «The Matrix».
Und der hat es in sich: Laut Warner Bros. ist es der erste Titel des Studios, der überhaupt den IMAX-Digital-Remastering-(DMR)-Prozess durchlaufen hat. Heisst: Jeder Frame wurde optimiert, um auf der grössten Leinwand noch eindrucksvoller zu wirken. Zu sehen am Sonntag, 21. September in allen Pathé-IMAX-Kinos der Schweiz, in Originalsprache – und wie immer in Kooperation mit The Ones We Love und Pathé Schweiz.
Aber dieser Text soll kein blosser Reminder sein. Er ist eine Einladung, deine Realität zu hinterfragen. Lehnt euch zurück. Spielt im Hintergrund Don Davis’ ikonische Filmmusik – und lasst euch in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus fallen.
Vorsicht: Spoiler.
«Die Matrix ist überall. Sie ist allgegenwärtig. Selbst jetzt, in diesem Moment, siehst du sie, wenn du aus dem Fenster schaust. Oder wenn du den Fernseher einschaltest. Du kannst sie fühlen, wenn du zur Arbeit gehst. Wenn du in die Kirche gehst. Wenn du deine Steuern bezahlst. Sie ist die Welt, die dir vorgaukelt, dass alles in Ordnung ist – damit du nicht merkst, was dir genommen wurde.»
Ich erinnere mich noch genau, wie mich Morpheus’ Worte zum ersten Mal erschüttert haben. Ich war vielleicht 14 oder 15. Alt genug, um zu «wissen», dass irgendetwas an dieser Welt nicht stimmt. Zu jung aber, um zu verstehen, was genau. Und dann dieses cineastische Fenster, das sich öffnet und mir zeigt, dass ich nicht der Einzige bin, der dieses Gefühl hat.
Das Gefühl, dass alles irgendwie … falsch ist.
Fühlst du es nicht auch? Dass du dich durch ein Leben bewegst, das jemand anderes für dich eingerichtet hat? Aufstehen, arbeiten, schlafen. Konsumieren, funktionieren, ruhig bleiben. Kommerz hier. Polarisierende Feeds da. Immer schön lächeln. Aber tief drinnen spüre ich: Da muss doch mehr sein.
«The Matrix» trifft diesen Nerv. Damals wie heute. Und das ist vielleicht das grösste Geheimnis des Films: Er zeigt uns keine fremde, abgehobene Zukunft. Er zeigt uns unsere eigene Gegenwart. Nicht bloss jene aus dem Jahr 1999, als der Film ins Kino kam. Selbst heute ist «Matrix» noch brandaktuell. Nur aus einem anderen Blickwinkel.
Denn der Gedanke, dass wir in einem System leben, das uns vorgaukelt, frei zu sein, während es unsere Entscheidungen längst vorstrukturiert hat, er ist nicht Fiktion. Er ist Alltag. Wir werden getrackt, vermessen, gefiltert. Als gläserne Menschen, einsortiert in Kohorten, Zielgruppen und Kaufkraftklassen. Unsere Interessen werden beobachtet, verstärkt, manipuliert – von Algorithmen, die nicht wissen, wer wir sind, aber exakt vorhersagen, was wir als Nächstes klicken.
Ich meine: Unsere Welt ist doch mehr denn je eine Simulation aus Reizen, Empfehlungen und vermeintlichen Wahlmöglichkeiten geworden, nicht wahr? Sie sagt uns, welcher Film für uns relevant ist, welche Meinung wir lesen sollten, ja sogar, welche Beziehung wir eingehen könnten, wenn wir uns auf die entsprechenden Apps verlassen. Alles schön auf uns zugeschnitten, aber innerhalb eines Systems, das wir nicht kontrollieren.
Eine Freiheit, die sich zunehmend anfühlt wie ein Abo-Modell: 9.90 im Monat, jederzeit kündbar – aber nur, wenn wir das Kleingedruckte finden.
Doch das Aufwachen aus dieser Simulation ist nichts Romantisches. Kein Sonnenaufgang, kein warmer Moment der Klarheit. Zumindest nicht in «The Matrix». Aufwachen ist stattdessen kalt. Schmerzhaft. Du verlierst alles, was dir bisher Halt gegeben hat. Freunde, Familie, Alltag – der Traum entpuppt sich als reine Fassade.
Neo fällt nicht sanft aus seinem Traum. Er wird herausgerissen. Nackt. Schwach. An Schläuche angeschlossen, die ihn am Leben erhalten – oder eher: am Funktionieren. Die Wahrheit ist kein Geschenk, sie ist eine Zumutung.
Vielleicht trifft uns dieser Moment deshalb so hart, weil Neo selbst fast leer ist – eine Figur ohne grosses Ego, ohne überladene Backstory. Er ist eine Projektionsfläche. Wir sehen in seinem Blick, was wir selbst fühlen würden. Seine Angst ist unsere Angst. Seine Verwirrung ist unsere. Und sein erster Atemzug in der echten Welt fühlt sich an, als wäre er unser eigener.
Genau deshalb wirkt der Film bis heute: Er verkauft uns nicht die Illusion, dass Aufwachen einfach ist. Er zeigt uns, dass es Mut braucht, die vertraute Lüge gegen eine unbequeme Wahrheit einzutauschen. Eine Entscheidung, die wir im Kleinen ständig treffen könnten – und viel zu oft nicht treffen.
Niemand verkörpert das besser als Cypher. Der Mann, der schon draussen ist – der die Wahrheit kennt – und sich trotzdem zurück in die Illusion wünscht. Er sitzt im Restaurant der Matrix, ein perfekt gebratenes Steak auf dem Teller. Er weiss, dass es nicht echt ist. Dass jeder Bissen nur ein elektrischer Impuls ist, den sein Gehirn als Genuss interpretiert. Und doch sagt er: «Ignorance is bliss.»
Unwissenheit ist ein Segen.
Genau deshalb ist «The Matrix» so unheimlich relevant geblieben. Weil wir diese Entscheidung alle kennen. Wir alle haben schon unsere rote Pille gesehen – und sie ignoriert. Wir haben das unbequeme Gespräch nicht geführt. Den sicheren Job nicht verlassen. Die Wahrheit nicht zu Ende gedacht, weil sie uns etwas abverlangt hätte, wovor wir Angst hatten.
Sicher, wir leben 2025 (noch) nicht in einer postapokalyptischen Wüste, und doch liegen uns ständig rote Pillen vor der Nase. Sie sehen nur anders aus. Manche dieser roten Pillen sind ein Artikel, von dem wir wissen, dass er unsere Meinung infrage stellt und den wir trotzdem wegklicken, weil er unbequem ist. Oder der Hinweis, dass der Insta-Algorithmus uns nicht informiert, sondern konditioniert, und wir trotzdem weiter scrollen, weil es sich gut anfühlt.
Oder auch die Erkenntnis, dass unsere Komfortzone – unsere Bubble – nicht die Wahrheit, sondern eine Wahrheit ist.
Das sind die kleinen Entscheidungen, die «The Matrix» so zeitlos machen. Weil sie nicht in einer fernen Zukunft stattfinden, sondern im Hier und Jetzt. Weil sie uns nicht als Science-Fiction begegnen, sondern in jedem Gespräch, jedem Feed, jedem «Vielleicht später». Und wie im Film gilt: Die rote Pille wird dir niemand einflössen. Sie liegt einfach da.
Du musst sie schon selbst nehmen.
Die Frage ist nur: Willst du wirklich wissen, wie weit der Kaninchenbau reicht? Ich weiss, ich will. Weil jeder Blick in den Abgrund auch ein Blick in die Wahrheit ist – egal, wie unbequem sie ist. Und vielleicht ist es genau das, was «The Matrix» so unsterblich macht: Nicht die Effekte, nicht die Sonnenbrillen, nicht die Bullet Time oder die Kung-Fu-Moves. Sondern die Erinnerung daran, dass wir immer eine Wahl haben.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»