
Hintergrund
Nightdive kämpfen gegen das Vergessen von Spielen – Zwangserhaltung finden sie aber falsch
von Philipp Rüegg
Am 23. Oktober erscheint «Powerwash Simulator 2» – und Millionen Menschen werden freiwillig virtuell Dreck wegschrubben. Klingt absurd, aber es gibt gute Gründe dafür. Ein Deep Dive in die Psychologie von «Powerwash Simulator» und Co.
Mein Vater hat 40 Jahre lang für die Post gearbeitet. Als ich ihm kürzlich erzählte, dass ich ein Spiel spiele, bei dem ich Pakete austrage, hat er mich mit dem Unverständnis eines viktorianischen Waisenkinds angeschaut, dem man gerade erklärt hat, was Kryptowährung ist.
Dieser Konflikt bringt mich ins Grübeln: Wenn reale Arbeit so abschreckend ist, dass mein Vater meine virtuelle Postbotin für Wahnsinn hält – warum tue ich's dann trotzdem?
Dies bedeutet: Ziemlich viele Menschen bezahlen Geld dafür, in ihrer Freizeit virtuell zu arbeiten. Eigentlich paradox, oder?
Die Games bieten zudem kristallklare Ziele mit sofortigem Feedback. Dreck wegspritzen = befriedigende Geräusche und saubere Oberfläche. Im echten Job wartet man hingegen Wochen auf ein halbherziges «Gut gemacht» vom Chef (ausser bei Digitec. Hier erhalte ich für jeden Artikel ein «Dankeschön», einen Früchtekorb und ein Paar Schuhe aus Pinguin-Leder). In der virtuellen Welt ist jede Aktion sofort sichtbar und hörbar erfolgreich.
Das Gehirn liebt diese Eindeutigkeit und belohnt uns mit Dopamin-Ausschüttungen, als hätten wir gerade den Mount Everest bestiegen, anstatt nur virtuell einen Parkplatz geschrubbt.
Kennst du das Gefühl, wenn du eigentlich ins Bett müsstest, dir diese eine offene Quest aber keine Ruhe lässt? Dafür gibt's einen wissenschaftlichen Begriff: den Zeigarnik-Effekt. Unser Gehirn hasst unerledigte Aufgaben und erinnert uns penetrant daran – diesen Mechanismus nutzen Arbeitssims schamlos aus.
«Stardew Valley»-Schöpfer Eric Barone hat das System perfektioniert. Der Tag-Nacht-Zyklus unterbricht Spieler mitten in ihren Aktivitäten. Gerade wollte ich noch die Kürbisse giessen, schon wird's dunkel. Diese erzwungene Unterbrechung erzeugt das, was Psychologen als besonders motivierend beschreiben – das Verlangen, unerledigte Aufgaben abzuschliessen.
Die Games arbeiten dazu mit verschachtelten Belohnungsschleifen: Ich ernte eine einzelne Tomate (Mini-Erfolg), bestelle ein komplettes Feld neu (mittlerer Erfolg) und erweitere schliesslich meine Farm um einen Hühnerstall (Mega-Erfolg). Das Gehirn schwimmt in einem konstanten Strom von Erfolgserlebnissen. Das ist etwas, was der durchschnittliche Bürojob etwa so oft bietet, wie die Schweizer Nati Weltmeisterschaften gewinnt.
Im virtuellen Führerstand vom «Eurotruck Simulator» bin ich hingegen der Boss. Ich bestimme, wann ich mich hinters Lenkrad setzte und meinen Truck zum Bestimmungsort bringst – falls ich denn überhaupt Bock habe.
Game-Entwickler haben längst durchschaut, wie das menschliche Hirn tickt. Sie nutzen ausgeklügelte psychologische Mechanismen, um aus stinklangweiligen Tätigkeiten Crack fürs Gehirn zu machen. Das Zauberwort heisst «Gamification».
Gamification ist, wenn Game-Designer meinem Steinzeithirn vorgaukeln, dass Fensterputzen eine epische Quest ist. Die Formel ist erschreckend simpel: Man nehme eine eigentlich öde Tätigkeit, streue ein Punktesystem oder einen Fortschrittsbalken dazu und – zack – schon klebe ich vier Stunden am Bildschirm.
«Powerwash Simulator» macht's vor: Jeder weggespritzte Dreckfleck löst einen kleinen Dopamin-Rausch aus, der seinen Höhepunkt in einem akustischen Signal findet. Kurz die Hundehütte abgespritzt: Pling. Fühlt sich geil an. Das Gehirn unterscheidet nicht zwischen «echten» und virtuellen Erfolgen, es will nur sein neurologisches Guetzli. Die Entwickler wissen das und füttern uns mit dem digitalen Äquivalent.
Arbeitssimulator-Games machen langweilige Aufgaben nicht spannend – sie liefern die psychologischen Belohnungen, die Arbeit befriedigend macht, während sie den ganzen Stress weglassen.
Diese Games befriedigen fundamentale menschliche Bedürfnisse, die moderne Jobs oft ignorieren:
Arbeitssimulator-Games sind damit keine Flucht ins virtuelle Büro, sondern eine Realitätsflucht zu idealisierten Arbeitsbedingungen. Sie geben uns das Gefühl von Struktur und Produktivität, während sie Unsicherheit, Office-Politik und Leistungsdruck eliminieren.
Wir spielen diese Games nicht, weil wir heimlich Briefträger werden wollten (Sorry, Paps) oder uns nach dem Glamour des Rasenmähens sehnen. Wir spielen sie, weil sie uns das zurückgeben, was moderner Arbeit oftmals fehlt – das Gefühl, dass unsere Anstrengung tatsächlich zu etwas führt, das wir auch sehen können.
Dass wir selbst entscheiden, wann und wie wir etwas tun. Dass am Ende des Tages nicht nur ein weiterer Punkt auf einer endlosen To-Do-Liste abgehakt ist, sondern tatsächlich etwas Greifbares entstanden ist – und sei es auch nur ein sauberer virtueller Parkplatz.
In den frühen 90er-Jahren vererbte mir mein älterer Bruder sein NES mit «The Legend of Zelda» und startete damit eine Obsession, die bis heute anhält.
Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.
Alle anzeigenKommt der Impuls dafür – wie so oft – aus der Kindheit? Ich wollte allerdings nie Briefträger werden und eine spontane Umfrage unter meinen Arbeits-Sim-spielenden Freundinnen und Freunden hat ergeben, dass niemand von ihnen einmal Bauer, Gartenpfleger oder Reinigungskraft werden wollte. Und dennoch spielen sie regelmässig «Stardew Valley», «Lawnmower Simulator» und «Powerwash Simulator». Das heisst, entweder lügen meine Freunde alle (kann gut sein), oder es steckt mehr dahinter, warum Spiele mit «Normalo»-Jobs so beliebt sind.
Für diesen Beitrag gehe ich von Option 2 aus, denn der Erfolg dieser Games ist zu gross, zu weitreichend, als dass dahinter nicht mehr stecken kann. «Euro Truck Simulator 2» wird laut Steam-Statistik zu praktisch jedem Zeitpunkt von rund 30 000 Menschen gespielt. Der aktuelle Teil der «Farming Simulator»-Franchise des Zürcher Studios Giants Software verkaufte sich allein in der ersten Woche mehr als zwei Millionen Mal.
Hinter dem Erfolg der Arbeitssimulator-Games stecken verschiedene psychologische Konzepte. Das vielleicht Wichtigste ist das, was der ungarische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi als «Flow» bezeichnet. Es ist dieser Zustand völliger Versunkenheit, wenn die Zeit wie im Flug vergeht und man alles um sich herum vergisst. Der Begriff wurde bisher primär in der kreativen Szene benutzt, aber offenbar funktioniert's auch beim virtuellen Fensterputzen.
Studien der Central European University zeigen, dass Simulationsspiele Flow-Zustände sogar zuverlässiger hervorbringen als konzentrationsintensive Shooter. Dies, weil die repetitive Natur der Aufgaben wie eine Art digitale Meditation wirkt. Beim monotonen Hin- und Herfahren des Rasenmähers schaltet das Gehirn in einen ähnlichen Modus wie bei Achtsamkeitsübungen und verbessert zusätzlich die Stimmung. Dies belegt unter anderem eine Studie der Universität Oxford.
Studien der East Carolina University zeigen: Diese konstanten Micro-Achievements reduzieren Stressmarker um bis zu 54 Prozent. Das ist effektiver als die meisten Entspannungstechniken – und erst noch spassiger. Das erklärt auch, warum Menschen nach einem stressigen Arbeitstag ausgerechnet beim virtuellen Busfahren entspannen.
«Ich muss gar nichts», verkündete die deutsche Electro-Punk-Band Grossstadtgeflüster im Jahr 2010 und feierte damit die Freiheit, sich von niemandem etwas sagen lassen zu müssen. Macht Sinn, ich tanze gerne nach meinem eigenen Beat und das ist der vielleicht einer der tragendsten Faktoren für den Erfolg dieser Games: Sie geben die Kontrolle zurück, die im echten Leben zunehmend fehlt. Die Selbstbestimmungstheorie besagt, dass Menschen drei psychologische Grundbedürfnisse haben: Autonomie, Kompetenz und soziale Verbundenheit. Rate mal, was moderne Jobs besonders schlecht befriedigen?
Studien zeigen, dass Menschen, die im Job wenig Autonomie erleben, besonders anfällig für Game-Eskapismus sind. Die virtuellen Jobs kompensieren quasi das, was die echten nicht bieten können. Statt im realen Leben das x-te Rädchen im Getriebe zu sein, gebe ich den Ton an. Dass dabei nur ein paar Hühner zuhören, ist zweitrangig.
Was wie Zeitverschwendung aussieht, hat messbare therapeutische Effekte. Kontrollierte Studien zeigen: Diese Games aktivieren das parasympathische Nervensystem (zuständig für Entspannung), senken Cortisol-Level und erhöhen Serotonin. Das sind die gleichen Effekte wie bei etablierten Meditationspraktiken – nur dass ich eben den Boden scheuere, anstatt im Lotussitz auf meinen Atem zu achten.
Die WHO hat während der Covid-Pandemie sogar mit Gaming-Firmen kooperiert, um die mentalen Benefits von Videospielen zu beleuchten. Einige Therapeuten integrieren diese Games unterdessen auch in ihre Praxis: Sie werden bei Patienten, die traditioneller Meditation nichts abgewinnen können, als interaktive Entspannungstechniken eingesetzt.