Hintergrund

Ein Blinder öffnet uns die Augen

David Lee
21.1.2019
Bilder: Thomas Kunz

Wir wissen schon länger, dass unsere Website nicht behindertengerecht ist. Doch einmal einen Blinden beim Ausprobieren unseres Shops zu beobachten, hat uns die Augen geöffnet.

Gianfranco Giudice testet für die Stiftung Websites auf ihre Tauglichkeit für Menschen mit Behinderungen und ist selbst blind. Jetzt sitzt er vor einem Laptop und besucht digitec.ch. Eine spezielle Software, ein sogenannter Screenreader, liest ihm vor, was sich auf der Website befindet. Doch was der Screenreader so von sich gibt, ist nicht hilfreich. Grund: Auf der Seite fehlen Zusatzinformationen, die der Reader braucht, um die grafischen Elemente richtig zu deuten.

Woran ein Blinder scheitert

Sehende erkennen eine Navigation ganz einfach daran, dass sie wie eine Navigation aussieht und sich grafisch an einem Ort befindet, wo wir aus Gewohnheit Navigationen erwarten. Für einen Screenreader muss aber die Navigation als solche im Quellcode der Seite beschriftet sein. Ansonsten schwafelt die Sprachausgabe einfach den Text drauflos, und der Blinde kann sich höchstens zusammenreimen, dass dies nun eine Navigation sein könnte.

Bei der «Liste mit sechs Elementen» kann sich Gianfranco noch zusammenreimen, dass es sich um eine Navigation handeln muss. Doch dann – oben rechts – kommen die Punkte «Deutsch» und «Inkl. MwSt.» Das ist keineswegs selbsterklärend. Insbesondere, da der Screenreader keinen Hinweis darauf gibt, dass diese Elemente ausklappbare Untermenüs haben. Wer nicht blind ist, sieht das am kleinen nach unten zeigenden Pfeil. Gianfranco nützt dieser optische Hinweis nichts.

Albtraum Registrierung

Gianfranco versucht jetzt, sich zu registrieren. Die Beschriftungen der Formularfelder wie «Vorname», «Nachname» usw. werden vom Screenreader nicht vorgelesen. Gianfranco weiss nicht, was er wo eingeben muss. Unten, bei der Telefonnummer, funktioniert dann das Vorlesen plötzlich.

Beim Link mit dem Facebook-Symbol sagt der Screenreader «Link». Äh, ja. Wir müssen lachen, aber gleichzeitig schämen wir uns. Aber gut: Jetzt wissen wir, warum wir so schlecht sind.

Unterschiedliche Behinderungen, unterschiedliche Bedürfnisse

Die Idee dieses Treffens ist auch, etwas zu lernen und uns auszutauschen. Darum sind neben mir und Fotograf Thomas Kunz auch der UX-Designer Stefan Jost und der Front-End-Entwickler Remo Vetere dabei. Und Andreas Uebelbacher von der Stiftung gibt uns zuerst ein paar Hintergrundinformationen zur Stiftung und ihrer Arbeit, aber auch zu Behinderungen allgemein und der Situation in der Schweiz.

Die Stiftung befasst sich nur mit dem elektronischen Zugang – für bauliche Massnahmen gibt es eine eigene Fachstelle. Behinderungen lassen sich in diese vier Kategorien einteilen:

  1. Sehbehinderungen
  2. Hörbehinderungen
  3. Motorische Behinderungen
  4. Kognitive und neurologische Behinderungen

Jede Behinderungsform benötigt unterschiedliche Optimierungen. Auch innerhalb einer Kategorie. Ein Blinder ist auf andere Hilfen angewiesen als eine sehbehinderte Person, die noch etwas Sehvermögen hat und das nutzen will.

Die Schweiz im internationalen Vergleich

Für Bund, Kantone und Gemeinden gibt es weitere, genauere Vorschriften. Seit 2014 gilt in der Schweiz ausserdem die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), die zum Beispiel auch Schulen in die Pflicht nimmt. Nur im privatwirtschaftlichen Bereich bleibt der optimale Zugang für Behinderte weitgehend freiwillig.

Das Bewusstsein ist wichtig

Für unsere UX-Designer und Entwickler stellt sich die Frage, wo sie denn beginnen sollen. Bei komplexen Websites – digitec.ch gehört zweifellos dazu – ziehen oft auch kleine Änderungen eine ganze Reihe von Folgeaufgaben nach sich. Je länger man nichts für Behinderte optimiert, desto schwieriger wird es.

Doch letztlich müssen wir offen zugeben: Die schlechte Bedienbarkeit für Blinde beruht nicht in erster Linie auf fehlenden Ressourcen, sondern mehr darauf, dass das Problem gar nicht in den Köpfen verankert ist. Einige der Probleme, die Gianfranco für uns aufgedeckt hat, wären relativ einfach zu lösen, vermutet Remo.

98 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


Hintergrund

Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.

Alle anzeigen

Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

  • Hintergrund

    «Powerwash Simulator» und Co: Warum wir in Games gerne langweilige Arbeiten ausführen

    von Rainer Etzweiler

  • Hintergrund

    Ein Handwerker im sowjetischen Geheimlabor: Vorschau zu «The Lift»

    von Philipp Rüegg

  • Hintergrund

    «Technologie soll dem Menschen dienen – und nicht umgekehrt»

    von Kevin Hofer