Hintergrund

Disneys «Mulan»-Kontroverse: Brauchen grosse Studios überhaupt noch Kinos?

Luca Fontana
11.8.2020

Disney verschiebt «Mulan» vom Kino auf Disney+. Einen der letzten verbliebenen Blockbuster 2020. Kinobetreiber sind ausser sich. Mehr noch; Sie fürchten um ihre Existenz. Brauchen grosse Filmstudios überhaupt noch Kinos?

«Mulan» wird nicht mehr ins Kino kommen.

Stattdessen kommt der Film am 4. September 2020 in den USA und in ein paar nicht näher genannten europäischen Ländern auf Disney+. Für 29.90 Dollar, zusätzlich zu den Abogebühren des disneyschen Streamingdienstes.

Das sorgt für Aufruhr. Zunächst einmal bei Abonnenten. Diese fühlen sich von Disney betrogen: Bisher sind alle Disney+-Inhalte im Abo enthalten gewesen. Selbst Filme, die eigentlich der grossen Leinwand bestimmt waren. Etwa Pixars «Onward», das umstrittene «Artemis Fowl» und die Musical-Verfilmung «Hamilton». Dass Abonnenten für einen Film zusätzlich zahlen müssen, ist also neu.

Betreiber fürchten um ihre Existenz. Lange können sie sich mit alten oder aufgewärmten Suppen wie «Bad Boys For Life» oder «Harry Potter and the Prisoner of Azkaban» nicht mehr über Wasser halten.

Eine andere Sorge ist aber noch grösser: Was, wenn Disneys «Mulan»-Experiment funktioniert? Brauchen grosse Studios dann überhaupt noch das Kino?

Disney verspricht: Eine einmalige Sache

Ohne Frage: Die Branche ist im Umbruch.

Ein Schlag ins Gesicht der restlichen Kinobetreiber, die sich dem digitalen Wandel entgegenzustellen versuchen. Cinemark und IMAX, zum Beispiel.

Ursprung des Disputs war «Trolls World Tour». Während Kinos im Frühjahr weltweit geschlossen blieben, hat Universal seinen Animationsfilm stattdessen für 15 bis 20 Dollar in den Online-Verleih gebracht – dem Preis eines Kinotickets. Das zahlte sich aus: In nur drei Wochen verdiente das Studio allein am US-Markt knappe 100 Millionen Dollar.

Jeff Shell, NBCUniversals CEO, machte daraufhin klar, Filme zukünftig gleichzeitig digital und im Kino veröffentlichen zu wollen. Ein Day-and-Date-Release also. AMC, um potenzielle Kinogänger bangend, kündigte daraufhin erzürnt an, gar keine Universal-Streifen mehr zu zeigen, sollte Shell an seinen Plänen festhalten.

Rechnen wir nach.

Fragt sich: Wie wahrscheinlich ist es, dass 22,1 Prozent der zahlenden Abonnenten den Film kaufen?

Erboste Einzelzuschauer könnten das Modell boykottieren. Aber Disneys eigentliche Zielgruppe sind und waren seit jeher Familien. Familien, für die ein Kinobesuch für Mama, Papa und zwei Kinder – zum Beispiel – samt Tickets, Getränk und Popcorn locker um die 100 Dollar kostet. Da wirken 29.90 Dollar billig.

Ziehen wir’s also weiter: Würden sich rund die Hälfte der Abonnenten den Film kaufen, nähmte Disney satte 904,5 Millionen Dollar ein. Fast eine Milliarde. Und keine Kinobetreiber oder Distributionspartner müssten an diesem Erfolg beteiligt werden. Das Geld flösse so gut wie direkt in Disneys Kassen. Und das für einen Film, der nicht mal mit Star-Regisseuren oder bekannten Schauspielern auftrumpft.

Zu hoch gegriffen? Wer weiss. Aber die Ängste der Kinobetreiber, dass ihre Säle angesichts solcher Zahlen gar nicht mehr gebraucht würden, sie sind real.

Disney stützt sich auf das einzige, was überhaupt noch funktioniert

Konkret: In nur drei Monaten hat die Walt Disney Company einen Verlust von 4,7 Milliarden Dollar hinnehmen müssen. Im gleichen Quartal ein Jahr zuvor betrug der Gewinn satte 1,8 Milliarden Dollar – auch dank Rekordfilm «Avengers: Endgame».

Schuld an den tiefroten Zahlen ist die anhaltende Pandemie. Die hat Disney in fast sämtlichen Geschäftsbereichen hart getroffen: Gestoppte Film- und Serienproduktionen, kaum Einnahmen aus Kinofilmen, weltweit geschlossene Freizeitparks und fehlende Einnahmen aus Ferienresorts und Kreuzfahrten mit Disney-Themenschiffen. Und ein Ende ist kaum in Sicht.

Aber: In Zahlen gemessen bleibt Disney+ defizitär. Noch. Der von der Pandemie begünstigte Wachstums-Boom ist auch dank Schnäppchenpreisen und kostenlosen Lockangeboten erkauft worden.

Ich habe noch nie gesehen, wie jemand den neuen Weg so schnell erlernt und gemeistert hat. Ausführung, Klarheit über die Marke und Fokus auf Inhalte – ich ziehe meinen Hut.
Reed Hastings, Netflix-CEO, April 2020, Telefonkonferenz zu den Ergebnissen des ersten Quartals

Disney jedenfalls macht mit seinem Zug, «Mulan» nicht im Kino, sondern auf seinem Streaming-Dienst zu zeigen, aus der Not eine Tugend. Den Film jetzt oder erst in einem Monat – in einem halben Jahr – ins Kino zu bringen, wäre eine riskante Entscheidung. Zumindest so lange, wie viele Kinosäle nur eingeschränkt verfügbar sind und sich die Entwicklung der Pandemie kaum vorhersehen lässt.

Ein Zeichen der Zeit: Das Streaming-Geschäft ist wichtiger denn je. Aber ob die Abonnenten bereit sind, sich auf das teure Mulan-Modell einzulassen, wird sich noch zeigen müssen.

Ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Kinobetreiber?

Disney ist der Kinobranche ihr Tod. Oder nicht?

So düster die aktuelle Lage für Kinos auch aussieht: Es gibt Argumente, die gegen ein Kinosterben sprechen. Zumindest gegen ein globales. Gerade grosse Kinoketten versuchen bereits seit Jahren, sich neu zu erfinden. Zum Beispiel mit Sofas oder gar Betten statt Sitzen in den Kinosälen.

Dass eher kleine Betreiber mit nischigen Filmen jenseits vom Mainstream gegen die grossen Multiplex-Kinoketten mit Blockbuster-Events anzukommen versuchen – mal erfolgreich, mal weniger erfolgreich – ist ein anderes Thema.

Und dass ausgerechnet diese Betreiber auch noch von nischigen Streamingdiensten konkurriert werden, ebenso.


Apropos: Übers Thema «Mulan» auf Disney+ haben Redaktionskollegen Phil, Simon und ich erst kürzlich im Podcast diskutiert. Willst du unsere persönlichen Meinungen zum Thema, dann hör’ hier rein.

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Ich schreibe über Technik, als wäre sie Kino, und über Filme, als wären sie Realität. Zwischen Bits und Blockbustern suche ich die Geschichten, die Emotionen wecken, nicht nur Klicks. Und ja – manchmal höre ich Filmmusik lauter, als mir guttut.


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