Hintergrund

Wird die Schrift einer Schweizerin zur neuen Microsoft-Standardschrift?

Calibri hat ausgedient, eine neue Standardschrift soll für Microsoft Office her. Zur Auswahl steht unter anderem Seaford, die von der Schweizerin Nina Stössinger mitentwickelt wurde. Im Interview erzählt sie, wie die Schriftentwicklung ablief, warum Menschen Comic Sans missverstehen und weshalb sie gerne Vögel fotografiert.

Ciao, Calibri, 10 Punkt. Die Microsoft-Office-Programme sollen 2022 eine neue Standardschrift erhalten. Fünf Fonts sind im Rennen: Bierstadt, Grandview, Skeena, Tenorite und Seaford. Seit ein paar Tagen kannst du sie im Word, Powerpoint und den anderen Programmen testen und Microsoft dein Feedback abgeben.

Zwar orientiert sich mit Bierstadt eine Schrift an der Mutter aller Schweizer Schriften, Helvetica. Doch an Seaford hat effektiv eine Schweizerin gearbeitet. Nina Stössinger kommt ursprünglich aus Basel, lebt nun seit knapp fünf Jahren im Stadtteil Brooklyn in New York und arbeitet dort in der Schriftgestaltungsagentur Frere-Jones Type.

Galaxus: Bist du eigentlich Schriftgestalterin oder Typografin? Oder sogar beides?

Wie bist du zu dem Beruf und auch von Basel nach New York gekommen?

Die Umstellung war kein Problem?

Wie läuft die Schriftgestaltung denn genau ab? Gestaltest du aus eigenem Antrieb oder auf Auftrag?

Der wirklich kreative Teil beim Schriften entwerfen, also das Zeichnen, ist ziemlich kompakt. Danach wird die Ausarbeitung der ganzen Zeichensätze sehr systematisch. Klar, können sich die zwei Phasen auch vermischen, wenn etwas nicht funktioniert und überarbeitet werden muss. Grundsätzlich steckt aber viel Fleiss in einer neuen Schrift.

Und dann muss die Schrift noch programmiert werden?

Es gibt aber auch Programme, die die ganze Produktion automatisiert machen, wo niemand etwas programmieren oder scripten muss. wie zum Beispiel Glyphs. Unser Workflow läuft etwas weniger automatisiert, weil wir gerne mehr Kontrolle über den Prozess haben — weshalb ich zum Beispiel die Opentype Features, also Zusatzoptionen und Instruktionen wie eigens gezeichnete Ligaturen, selbst scripte.

Und jetzt also Seaford für Microsoft. Wie ist das abgelaufen? Microsoft klingelt wahrscheinlich nicht einfach an der Tür und sagt: «Mach mir mal eine neue Standardschrift.» Oder doch?

So genau weiss ich nicht, wie das abgelaufen ist. Tobias und seine Partnerin Christine Bateup, die gemeinsam die Firma leiten, haben das alles geklärt, ich kam als Senior Typeface Designer dann ins Spiel, als es um die Gestaltung ging. Nach meinem Verständnis sind aber fünf Firmen direkt von Microsoft beauftragt worden, eine serifenlose Schrift zu entwerfen. Etwas überraschend für mich.

Dich hat überrascht, dass alle serifenlos sein mussten? Magst du Serifen lieber?

Gab’s noch weitere Vorgaben?

Das Briefing war sehr offen. Neben einer serifenlosen sollten wir eine Schrift in aufrecht, fett, kursiv, fettkursiv und als Überschrift in aufrecht und kursiv gestalten. Und die Schrift sollte anders sein als die anderen. Deshalb durften wir die Entwürfe der vier weiteren Agenturen anschauen und haben gemerkt, dass sich die meisten am Schweizer Modell orientieren: klar, symmetrisch, graphisch. Wir wollten weg von dem und eine Leseschrift gestalten.

Und wie seid ihr an die Sache ran? Hattet ihr eine klare Vision?

Warum Seaford?

Zudem wollten wir einen Namen mit englischem Sprachhintergrund, da das am ehesten den kulturellen Hintergrund der Schriften ausdrückt, von denen Seaford inspiriert ist. Wir hätten den Namen dann für die Veröffentlichung nochmal ändern können, waren aber mit «Seaford» zufrieden genug, um den ganzen Prozess nicht nochmal aufzurollen (lacht).

Ihr habt Ende 2019 mit dem Entwerfen begonnen. Wann war die Schrift fertig?

Das war so Mitte letzten Jahres. Die Produktion der Schrift wollte Microsoft selbst machen, weil die da ihren ganz eigenen Workflow und ihre eigenen Programme haben.

Was ist der nächste Schritt? Wann wird der Sieger gekürt?

Ich sehe diese Unterschiede als Laie wohl weniger als du.

Ich habe erst kürzlich mit einem Kollegen darüber geredet, wie krass Menschen auf solche Veränderungen reagieren. Wenn Zeitungen ihre Schrift ändern, gehen die Abonnenten auf die Barrikaden. Das ist wohl ein bisschen so, als würde jemand in deine Wohnung einbrechen und einfach alle Möbel umstellen.

Gibt’s Unterschiede zwischen Basel und New York bei der Schriftnutzung?

Du hast es vorher schon angetönt, das letzte Jahr war aufgrund der Pandemie nochmal ganz anders. Ihr habt zu dem Zeitpunkt gerade erst mit dem Projekt begonnen. Hat sich dadurch etwas geändert?

Jetzt fällt mir gerade ein, dass es doch eine spezielle Situation im Projekt gab. Microsoft hat seinen Sitz in Seattle, das schon früher von der Pandemie betroffen war als wir hier in New York. Wir haben auf Feedback gewartet und eine Weile lang nichts gehört, weshalb ich bei Tobias mal nachgefragt habe, was da wohl los sei. Er hat mich ganz verdutzt angeschaut und meinte, dass die jetzt wohl alle ins Homeoffice zügeln. Ich habe den Link damals noch gar nicht gemacht.

Viele Menschen haben im letzten Jahr neue Hobbys angefangen. Ich habe meine Recherche betrieben und dich auf Instagram gestalked. Dabei sind mir einige Vogelbilder aufgefallen. Ornithologie als Ausgleich oder gar Inspiration?

Inspiration nicht. Dafür schaue ich mir jedes einzelne Schild und Plakat an (lacht). Egal, ob die Schrift super gemacht ist oder handwerklich schlecht. Die können nämlich trotzdem originell und wahnsinnig interessant sein. Aber schon die Stadt an sich ist für mich noch immer neu und inspiriert mich.

Du hast gesagt, dass du jedes Schild anschaust und dir deine Gedanken machst. Passiert das auch bei Menschen? Schliesst du anhand der Schriftwahl auf den Charakter?

Ein Stück weit passiert mir das sicher. Ich versuche aber, mir dessen bewusst zu sein und nicht abzuwerten. Hier in Brooklyn gibt’s zum Beispiel einen Laden in der Nachbarschaft, der «Chicken Soup» verkauft. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeilief, war das Gericht auf der Tafel falsch geschrieben. Anfangs habe ich das belächelt, irgendwann aber gemerkt, dass das doch völlig egal ist, solange die Suppe schmeckt.

Gibt’s trotzdem eine Schrift, die du niemals benutzen würdest, weil sie so grässlich ist?

Mir fällt gerade kein konkretes Beispiel ein, aber sicher Schriften, die handwerklich schlecht gemacht sind. Wenn der Rhythmus nicht stimmt oder die Formen sich gegen das Lesen sperren, dann macht’s niemandem Spass.

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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


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