Hintergrund

Windows 98 wird 25 Jahre alt – und ich arbeite eine Woche damit

Martin Jud
20.6.2023

Am 25. Juni 1998 erblickte Microsoft Windows 98 das Licht der Welt. 25 Jahre später habe ich eine Woche damit gearbeitet und diesen Beitrag mitsamt den Bildern darin erstellt.

Kann ich Windows 98 auch heutzutage produktiv nutzen? Ich habe meinen Retro-Gaming-PC zum Retro-Office-PC umfunktioniert. Eine Woche lang arbeite ich nur an diesem Computer. Dazu nutze ich neben dem 25 Jahre alten Microsoft-Betriebssystem und Office 97 auch Adobe Photoshop 7. Die Bildbearbeitungssoftware besitze ich inklusive fettem Kompendium (von Markt+Technik), seit sie vor 21 Jahren herauskam.

Beim Surfen im modernen Internet sind wegen seiner Verschlüsselung grosse Probleme vorprogrammiert. Ich habe zwar einen Plan – aber einen schlechten, wie sich gleich zu Beginn meiner Retro-Arbeitswoche herausstellt. Dank eines Plan B werde ich nach dem chaotischen Start doch noch produktiv. Auch wenn mich Clippy, einige Schafe und Solitaire immer wieder ablenken.

Letzte Vorbereitungen für den Office-Betrieb: USB-Anschlüsse für die Webcam

Danach wäre eigentlich eine virtuelle Teamsitzung angesagt, doch die lasse ich sausen. Ich bin noch nicht so weit mit dem Internetzugang und meiner Webcam. Doch ich arbeite daran, nachdem ich dem Herunterfahren-Geräusch von Windows 98 gelauscht und den PC aufgeschraubt habe. Ich baue ihm eine Erweiterungskarte ein (Asus USB MIR Rev. 1.11), um zwei USB-Anschlüsse für Webcam, Stick und Co. zu erhalten.

15 Minuten später habe ich einen erfolgreichen Test mit einem 64 Megabyte (!) fassenden USB-Stick hinter mir. Beide Anschlüsse tun, was sie tun sollen. Auf dem Stick liegen einige alte MP3-Dateien, die ich einst mit einem 128k-Modem heruntergeladen hatte. Das dauerte pro Song je nach Quelle gut 20 Minuten. Dagegen ist der uralte Stick mit USB 1.1 eine richtige Rakete mit wenigen Sekunden pro Song.

Zum Abspielen der Musik verwende ich den legendären Winamp-Medienplayer. Ich werde mir, sobald der Computer im Netzwerk eingebunden ist, vom NAS weitere Songs herunterladen. Arbeiten ohne Gedudel ist aufgrund des dezent stets im Hintergrund hörbaren Gehäuse- und Prozessorlüfters gewöhnungsbedürftig. Wie der Wasserhahn, der nie mit dem Tropfen aufhört. Früher hat mir das weniger ausgemacht.

Wenn statt dem Internet der Bluescreen kommt

Mit eingestecktem Netzwerkkabel fährt die Kiste neu hoch. Sie bootet sauber bis zu dem Punkt, wo der Desktop-Hintergrund geladen wird. Danach folgt nicht wie gewohnt der Startsound, sondern ein Bluescreen. Ein Error und Totalabsturz, der sich Minuten danach zweimal wiederholt. Beim dritten Versuch höre ich immerhin einen abgehackten Startsound und sehe kurz die Taskleiste, ehe der Absturz erneut kommt.

Wenn du nur halbwegs drin bist

Kannst du dich an die AOL-Werbung mit Boris Becker erinnern? Darin ist alles so einfach ... du bist im Nu drin – im Internet.

Ganz so einfach wie damals funktioniert die Retro-Hardware heute nicht mehr. Die Webbrowser von früher können zwar auch heute noch genutzt werden, jedoch nur für die allerwenigsten Internetseiten. Der Grund ist die Verschlüsselung. Schon seit Jahren verlangen die meisten Internetseiten zur sicheren Datenübertragung das Verschlüsselungsprotokoll Transport Layer Security (TLS) mit mindestens Version 1.2.

SSE gab es erstmals mit dem Intel Pentium III. Mein AMD K6-2+ hat eine ähnlich funktionierende Befehlssatzerweiterung namens 3DNow!, die unter Softwareentwicklern weniger Unterstützung als SSE und SSE2 erhielt. Daher muss ich auf einen Webbrowser setzen, der auch ohne SSE funktioniert, was die möglichen Kandidaten auf weniger als ein Dutzend einschränkt.

Ich teste gut zwei Stunden verschiedene Versionen von Opera, Seamonkey, New Moon und Firefox, bis es klappt: Mit einer angepasste Version von Firefox 31.8 ESR surfe ich endlich ohne SSE oder SSE2.

Allerdings funktioniert das nicht ganz so reibungslos, wie ich mir erhofft habe. Mein Browser kommt nicht in die Gänge. Surfe ich auf www.digitec.ch, baut sich das Bild der Startseite über Minuten auf. Fast, wie wenn ich mit einem 56k-Modem unterwegs wäre. Andere Websites sind da nicht besser.

Enttäuscht beende ich den ersten Retro-Arbeitstag.

Plan B funktioniert: Ich bin drin!

Auf dem Windows-11-Notebook habe ich die Software bereits installiert. Der Remotedesktop-Server startet beim Hochfahren des Notebooks automatisch. Die Displayauflösung habe ich bei ihm auf 1024 × 768 Pixel festgelegt. Es ist die gleiche Auflösung, die ich unter Windows 98 auf meinem 21 Zoll grossen Monitor von Fujitsu Siemens verwende. So brauche ich das Notebook nur aufzuklappen, damit es aufstartet. Ich achte also darauf, wirklich strikt nur am alten PC zu arbeiten.

Dank der kleinen Grösse des Programms konnte ich es vorab auf eine 3,5-Zoll-Diskette kopieren. Die schiebe ich nun in meine Retro-Kiste und installiere ThightVNC. Wenig später gebe ich beim Start des Remotedesktop-Clients die IP-Adresse des Laptops ein und freue mich.

Es hat geklappt, der Windows-11-Desktop lässt sich gut bedienen. Der Recherche im Internet, dem Abarbeiten des Postfachs und der Teams-Sitzung steht nichts mehr im Weg.

Etwas traurig bin ich darüber, dass ich meine Retro-Webcam nun doch nicht nutze und noch immer scharf über die Notebook-Webcam gezeigt werde. Dass das Sitzungsvideo bei der Übertragung von Windows 11 auf Windows 98 alles andere als flüssig ankommt, ist mir egal. Immerhin aktualisiert sich das Bild mindestens zweimal in der Sekunde.

Arbeiten mit Windows 98: Entschleunigung ist anders

Die Post benötigte ein bis drei Tage für das Ausliefern des Briefes. So war meistens erst nach einer Woche mit einer Reaktion zu rechnen. Wir hatten genug Zeit, um täglich ausgiebig auf die Moorhuhnjagd zu gehen oder eine Pause nach der Pause zu machen. Ich musste aufpassen, kein Boreout zu bekommen.

Photoshop 7: funktioniert echt gut, der Röhrenmonitor ist jedoch hinderlich

Windows 98 ist noch immer produktiv nutzbar, bei Onlineaktivitäten jedoch auch ein potenzielles Angriffsziel

Falls du das Schaf ausprobieren möchtest, gibt es im Microsoft Store hier eine aktuelle Version fürs heutige Windows.

Titelbild: Martin Jud

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