
Meinung
Genug gemolken: Warum Serien früher enden müssen
von Valentin Oberholzer
Netflix’ bisher grösster Hit wirkt in der zweiten Staffel wie ein hohler Halloween-Kürbis: Sobald ich reinschaue, ist der Zauber verflogen. Statt düsterer Spannung gibt’s Leerlauf, Fremdscham-Witze und Disney-Channel-Humor. Eine Abrechnung.
Ich weiss, ich bin wahrscheinlich einer der wenigen Menschen auf diesem Planeten, die «Wednesday» schon nach der ersten Staffel nicht als Meisterwerk gefeiert haben. Solide Unterhaltung? Klar. Vor allem um die Halloween-Zeit herum. Aber ein Massenphänomen? Das verstehe ich bis heute nicht.
Und trotzdem: Was Netflix 2022 aus dem Hut gezaubert hat, war offenbar ein Volltreffer. Die erste Staffel von «Wednesday» führt noch heute die Liste der meistgeschauten, englischsprachigen Serien auf Netflix an – noch vor «Stranger Things 4». Massgeblich dazu beigetragen hat eine Tanzszene, die derart viral ging, dass sich selbst Menschen, die sich sonst für Katzenvideos schämen, dem hypnotisierend-verführerischen Sog nicht entziehen konnten.
Oder Jenna Ortega.
Die Newcomerin, die als titelgebende Hauptfigur die Welt im Sturm eroberte, war auch für mich der einzige Grund, dranzubleiben. Sie ist eine grandiose Wednesday: eiskalt, stoisch, mit trockenem Humor und dieser unheimlichen Präsenz, die aus einer Nebenfigur der Addams Family plötzlich eine Serienheldin macht. Und dann ist da noch Tim Burtons Handschrift, der die Serie mitproduziert und bei beiden Staffeln jeweils die erste Folge inszeniert hat.
Mit der zweiten Staffel werde ich trotzdem nicht warm – freundlich ausgedrückt. Ganz ehrlich? Dadurch hat sich «Wednesday» für mich an die Spitze der überschätztesten Serien der letzten Jahre katapultiert.
Dabei müsste der neue Plot idiotensicher sein: Wednesday bekommt eine Vision, dass ihre beste Freundin Enid sterben wird. Ihretwegen. Ausgerechnet. Wie, wann und unter welchen Umständen verrät die Vision natürlich nicht. Wednesday muss also einen Weg finden, dieses Schicksal abzuwenden.
Ein klares, finsteres Versprechen, das förmlich nach Spannung schreit.
Aber die Serie? Sie schmeisst dieses Geschenk mit voller Wucht gegen die Wand und starrt dann fasziniert den Rissen hinterher. Statt den Plot zu erzählen, verheddert sich «Wednesday» in einer endlosen Parade von Nebenfiguren. Catherine Zeta-Jones als Morticia. Luis Guzmán als Papa Gomez. Bruder Pugsley, der hier ungefähr so dringend gebraucht wird wie ein Kürbis in der Karibik. Alte und neue Schülerinnen und Lehrer aus Staffel 1, die sich aufführen, als wäre Bildschirmzeit ein Menschenrecht.
Und dann ist da noch der bedauernswerte Steve Buscemi. Ein begnadeter Schauspieler, den man als neuen Principal Dort regelrecht demontiert. Statt einer Figur bekommt er eine jämmerlich unlustige Karikatur ohne Pointe. Ach, ich muss nur schon beim blossen Gedanken daran mit den Augen rollen!
Von effizientem Erzählen hat die zweite Staffel wohl auch noch nie was gehört. Jede Episode wirkt wie ein Mobile Game, das nur im Sinn hat, Laufzeit zu schinden. Erst ein Camp-Turnier im Wald, irgendwo zwischen «Hunger Games» und «Camp Rock» (ja, diese Mischung ist so absurd, wie sie klingt). Dann eine Schnitzeljagd. Eine lächerlich in die Länge gezogene Zombie-Plage.
Und schliesslich sogar eine komplette Körpertausch-Folge mit bestem «Freaky Friday»-Humor, Herrgott!
Der Höhepunkt im Reich der Plot-Verrenkungen: An einem Punkt will Principal Dort, dass eine Schülerin mit ihren Superkräften Morticia, Wednesdays Mutter, so manipuliert, dass sie wiederum ihre eigene Mutter – also Wednesdays Grossmutter – überredet, der Schule einen grossen Geldbetrag zu spenden. Morticia sträubt sich nämlich dagegen, weil sie kein gutes Verhältnis zur Mutter hat. Und die Schülerin sträubt sich gegen Dorts Plan, weil sie ihre Kräfte nicht missbrauchen will.
So sträuben sich alle ein Weilchen, bis es dann doch passiert. Vier ganze Folgen lang, genau gesagt. Das ist wichtig. Die Grossmutter muss nämlich irgendwann «zufällig» auf dem Schulgelände auftauchen, um Wednesday zu begegnen und ihr eine plotrelevante Information zuzustecken. Eine, die sie am Ende nicht mal wirklich vorwärts bringt.
Echt jetzt, wer denkt sich so eine Posse aus, nur um vier Stunden Content mit einem Nothing-Burger zu füllen? Das ist doch kein Storytelling!?
Und als ob das ganze Plot-Chaos nicht schon genug wäre, verabschiedet sich die zweite Staffel auch noch vom halbwegs cleveren Humor, der die erste überhaupt erträglich machte: Weg ist die charmant-zweideutige, leicht morbide Schlagfertigkeit – übrig bleibt ein Witzniveau, das wirkt, als hätte man das Drehbuch mit Disney-Channel-Outtakes gefüttert.
Das Resultat ist oftmals ein kindisches Gekicher, das an schlecht synchronisierte Sitcoms erinnert, und ein Erzähltempo, als hätte jemand auf 0,5-fache Geschwindigkeit gestellt und dann den Stecker oder Akku aus der Maus gezogen. Sowas wirklich schauriges wie die blutige Schulball-Szene aus der ersten Staffel bleibt eine weit entfernte Erinnerung:
Selbst Jenna Ortega, die sich hier abmüht, als wolle sie eine tote Serie mit purem Augenrollen wiederbeleben, kann diese bleierne Mischung nicht retten.
Das ist besonders schade, weil ich die bessere Serie glasklar erkennen kann. Die Vision um Enid ist ein düsteres Versprechen: Tragik, Schuld, Freundschaft, Verantwortung. Doch statt daraus Spannung zu destillieren, liefert Netflix Checklisten-Dramaturgie: Cameo hier, Turnier da, seichter Gag dort. Und am Ende jeder einstündigen Folge denke ich mir, dass die wichtigen Teile locker in zehn Minuten gepasst hätten.
Selbst den morbiden Tanz aus der ersten Staffel kopiert man so schlecht, dass ich nicht anders kann, als mich fremdzuschämen:
«Wednesday» Season 2 ist einfach länger, lauter und gleichzeitig so aufregend wie ein leerer Spielplatz im Novemberregen. Sie verwechselt Dichte mit Gedränge. Alles wirkt wie ein endloses TikTok, das sich für Prestige-Fernsehen hält. Und genau das macht mich fertig: Diese Serie hätte düster, gemein und wirklich gut sein können. Stattdessen spielt sie Halloween-Deko für den Netflix-Algorithmus …
… hübsch anzusehen, völlig leer dahinter, und nach zwei Tagen so trocken wie ein vergessener Kürbiskeks.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»
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