«Se7en» / Warner Bros.
Hintergrund

«Se7en» im IMAX: Warum Finchers Meisterwerk auch nach 30 Jahren schockiert

Luca Fontana
18.12.2024

30 Jahre nach seiner Premiere kehrt «Se7en» zurück ins IMAX-Kino – und mit ihm die tief verstörenden Fragen, die uns seit Jahrzehnten nicht loslassen: Kann eine Welt wie diese noch gerettet werden?

«Die Welt ist ein schöner Ort», schrieb einst Ernest Hemingway, «und es lohnt sich, für sie zu kämpfen.» Detective William Somerset, gespielt von Morgan Freeman, stimmt nur dem zweiten Teil zu. Die Strommasten in der vorstädtischen Steppe sind kaum mehr zu sehen; die Dämmerung ist beinahe zur Nacht geworden. Das Verbrechen, das soeben stattgefunden hat, wird sich für immer in sein Gedächtnis brennen.

Ende von «Se7en».

Ich weiss noch genau, wie ich David Finchers Meisterwerk in meinen frühen Jugendjahren zum ersten Mal gesehen habe. Geschockt war ich. Bis aufs Mark. Und doch wusste ich: Das war er. Der perfekte Film. Tolles Drehbuch. Grossartige Schauspieler. Wahnsinns-Regie. Und die vielleicht beste Detektivgeschichte, die je erzählt worden ist.

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Während ich mich wie irre auf die Wiederaufführung freue, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, was die immer noch anhaltende Faszination des Films ausmacht.

Ein Erklärungsversuch – mit Spoilern.

Eine Stadt der Sünden

«Se7en» spielt in keiner Stadt – er spielt in jeder Stadt.

Gleich an Mills' erstem Tag wird er zusammen mit Somerset an einen Tatort gerufen, der verstörender kaum sein könnte: Ein 180 Kilo schwerer Mann, das Gesicht in einen Teller Spaghetti gedrückt, ist an inneren Blutungen gestorben. Er wurde gezwungen, zu essen – bis das Essen seinen Magen zum Bersten brachte. Die Botschaft, die dieser Mord trägt, ist ebenso grausam wie präzise:

Masslosigkeit.

Als kurz darauf zwei weitere Morde geschehen, nicht minder verstörend, erkennt Somerset das Muster: Jeder Tat liegt eine der sieben Todsünden zugrunde. Hochmut, Habgier, Neid, Zorn, Wollust, Trägheit – und eben Masslosigkeit. Die Mordserie? Sie ist noch nicht vorbei.

Zwischen Gut und Böse.

Und wenn «Se7en» etwas gelingt, dann die quälende Frage aufzuwerfen, die uns bis heute rastlos lässt: Wie würden wir in einer solchen Welt voller Grausamkeit und Verfall reagieren? Mit stoischer Vernunft, übermannender Verzweiflung – oder mit unbändiger Wut?

Ein Kampf im Inneren

Bis dahin bleibt er den grössten Teil des Films zwar unsichtbar, seine Präsenz durchdringt aber trotzdem jede Szene. Spielend. John Doe ist nämlich kein gewöhnlicher Bösewicht. Er ist eine Warnung, wie weit Überzeugung gehen kann, wenn sie sich ohne Moral auf eine düstere, verdrehte Mission begibt: Die Gesellschaft aufzuwecken, ihr den Spiegel vor Augen zu halten und sie an ihre Werte zu erinnern.

«Wir sehen eine Todsünde an jeder Strassenecke, in jedem Haus, und wir tolerieren sie. Wir tolerieren sie, weil sie alltäglich ist, trivial, morgens, mittags und nachts», erklärt Doe im Film. «Nun, nicht mehr. Ich gehe mit gutem Beispiel voran. Was ich getan habe, wird analysiert, studiert und nachgeahmt werden ... für immer.»

John Doe will die sieben Todsünden bestrafen und so eine bessere Welt erschaffen – um jeden Preis. Aus seiner Sicht ein hehres Ziel. Was Doe aber wirklich erschreckend macht, ist nicht nur seine Intelligenz oder seine Skrupellosigkeit. Sondern die Tatsache, dass er einen Nerv trifft: Wir werden gezwungen, uns selbst mit der unbequemen Frage auseinanderzusetzen, ob wir unsere Werte, die uns ausmachen sollten, tatsächlich aus den Augen verloren haben.

«Wir sehen eine Todsünde an jeder Strassenecke – und wir tolerieren sie», hallt es mir erneut durch den Kopf.

«What’s in the box?» brennt sich derweil ins kollektive Filmgedächtnis.

Das Erbe des Bösen

Mit diesem letzten Akt hat Mills nicht nur Doe erlöst, sondern auch seine eigene Seele geopfert – und Doe hat der Welt gezeigt, wie leicht wir doch alle brechen.

Ist es die unausweichliche Eskalation, die das Ende von «Se7en» so sehr nachwirken lässt? Vielleicht. Oder auch. Für mich ist es dessen Tragik. Denn wo der Tod des so schrecklichen und skrupellosen Antagonisten eigentlich ein Grund zur Freude wäre, bedeutet er hier, dass John Doe letztlich doch gewonnen hat. Dass sein «Meisterwerk» vollendet wurde.

Das ist es, was «Se7en» so erschütternd macht.

«Wir kümmern uns um ihn», sagt der Polizeichef, als Mills abgeführt wird. «Alles, was er braucht», antwortet Somerset. «Wo wirst du sein?», fragt der Polizeichef schliesslich. «In der Nähe», seufzt Somerset leise ...

«Ich werde in der Nähe sein.»

Titelbild: «Se7en» / Warner Bros.

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Ich schreibe über Technik, als wäre sie Kino, und über Filme, als wären sie Realität. Zwischen Bits und Blockbustern suche ich die Geschichten, die Emotionen wecken, nicht nur Klicks. Und ja – manchmal höre ich Filmmusik lauter, als mir guttut.


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