Hintergrund

Play Suisse: «Zu siebzehnt gegen Netflix»

Luca Fontana
23.11.2020

Pierre-Adrian Irlé ist Projektleiter und der Intrapreneur hinter der neuen SRG-Streaming-App «Play Suisse». Im Interview stellt er sich nicht nur meinen Fragen, sondern auch der Kommentarspalte der digitec und Galaxus Community.

Ein Review, das Wellen geschlagen hat. Genau genommen bis nach Leutschenbach und Genf. Dort, wo sich der Unternehmenssitz des Schweizer Radio und Fernsehen befindet. Dort, wo «Play Suisse», die neue SRG-Streaming-App, entwickelt worden ist.

Geleitet wird das Projekt von Pierre-Adrian Irlé. Derjenige, der mich kontaktiert hat, kaum war das Play-Suisse-Review online.

Pierre-Adrian Irlé willigt ein.

Pierre, du bist verantwortlich für Play Suisse. Der Projektleiter. Nutzt du überhaupt Streamingdienste?
Pierre-Adrian Irlé: Na, klar! Ich nutze unter anderem HBO Now via VPN (lacht).

«Unser Play-Suisse-Team ist organisiert wie ein kleines, autonomes Start-Up-Unternehmen innerhalb der SRG.»

Dabei produziert die SRG tatsächlich viele unglaublich gute Inhalte, die allesamt Untertitel brauchen. Ich zum Beispiel schaue mir viele eurer Dokus und Reportagen an. Ich werde selten enttäuscht.

Herzlichen Dank. Ja, wir arbeiten wirklich hart an unseren Inhalten. Ich denke, wir sitzen hier auf einer Art Goldmine an guten Inhalten. Jetzt müssen wir nur noch lernen, noch tiefer zu schürfen und die vielen, tollen Inhalte ans Tageslicht zu befördern.

Viele unserer Leser waren aber nach dem Launch der App umso enttäuschter. Der Vorwurf, den ich am meisten lese und im Test auch selber geäussert habe, ist, dass die App unfertig wirkt.
Das kann ich absolut nachvollziehen. Vor allem die Enttäuschung. Ich glaube, da gibt’s zwei Kategorien. Zum einen sind die Leute über das enttäuscht, was fehlt, zum anderen aber über die Dinge, die da sind, aber die noch nicht richtig funktionieren.

Könnte man so ausdrücken, ja.
Unser Play-Suisse-Team ist organisiert wie ein kleines, autonomes Start-Up-Unternehmen innerhalb der SRG. Wir sind nicht viele und haben ein verhältnismässig kleines Budget. Zusammen haben wir bei Null angefangen, etwa im September 2019, und innerhalb von Monaten haben wir aus dem Nichts die Play Suisse Website und App gestampft.

Zum Beispiel?
Wir wissen, dass ein Grossteil der Zuschauer die SRG-Inhalte nicht via App konsumiert (Anm.: Play SRF), sondern über den Webbrowser. Darum war es uns extrem wichtig, dass Play Suisse im Webbrowser einwandfrei funktioniert...

Anders als bei uns beiden ist es ja auch nicht ihr Job.
Richtig. Für uns von Play Suisse ist das aber eine Chance. In deinem Artikel schreibst du, es könnte noch Monate dauern, bis die App in einem akzeptablen Zustand ist. Sowas wäre normal. Wir aber wollen zeigen, dass wir deutlich schneller sind. Das ist ein ganz wichtiger Punkt in unserer Strategie. Wir wollen, dass ein Umdenken stattfindet.

Ein Umdenken?
Als wir Play Suisse lanciert haben, wussten wir, dass die App noch nicht fertig ist. Klar, wie gesagt, wir hatten uns zum Start einen «fertigeren» Zustand vorgestellt. Aber der Punkt ist, dass wir die Philosophie vertreten, dass Play Suisse nie fertig entwickelt sein wird, solange es Play Suisse gibt und genutzt wird.

So, wie du das sagst, klingt das fantastisch.
Das ist auch der Grund, warum ich nach deinem Artikel gleich mit dir reden wollte, Luca. Das Feedback feuert uns an. Kritik nehmen wir entgegen. Und dann überraschen wir die Leute mit schnellen, wirksamen Updates. Apropos. Hast du das neueste Update schon gemacht?

Das besagte Umdenken…
Ja, ich glaube, dieser Spirit ist was Neues. Die Leute erwarten normalerweise ein einwandfrei funktionierendes, dafür fertiges Produkt. Das wird mit Play Suisse anders laufen. Und es erfordert ein Umdenken. Nicht nur bei den Zuschauern. Auch bei uns, innerhalb der SRG.

«Play Suisse nie fertig entwickelt sein wird, solange es Play Suisse gibt und genutzt wird.»

Das ist alles?
Die Leute vermissen noch Chromecast- und AirPlay-Unterstützung. Auch das wird in den nächsten zwei, drei Wochen nachgeliefert. Dann schauen wir das Feedback der Nutzer an und reagieren entsprechend. Ein bisschen Try-and-Error-mässig. Schritt für Schritt. Auch das gehört zum Umdenken.

Lass mich schnell googeln. Also laut Statistik waren da 2019 insgesamt 8600 Netflix-Mitarbeiter.
Genau (lacht). Es ist hart, diesen Ansprüchen jeden Tag aufs Neue gerecht zu werden. Und nach all dieser Arbeit lässt uns das viele Feedback nicht völlig kalt. Ist ja normal. Wir sind auch nur Menschen. Wir sind aber hochmotiviert, die hohen Erwartungen nicht nur zu erfüllen, sondern auch zu übertreffen.

Was waren anfangs denn die grössten Hürden?
Als ich vor etwas mehr als einem Jahr zur SRG kam, musste ich zuerst lernen, wie die Firma funktioniert. Wir reden immerhin vom grössten Medienhaus der Schweiz, das vor fast 100 Jahren gegründet worden ist. Da gibt es viele langsam walzende Mühlen, die seit eh und jeh vor sich hin walzen und genau wissen, wie und wann sie zu mahlen haben. Verstehst du, was ich meine?

Uff. All diese Mühen mit eurem kleinen Team...
Richtig. Du siehst, was ich mit monatelanger Krampferei meine. Und bei all dem war es trotzdem wichtig, nicht zu sehr vom visuellen Stil von etwas wie Netflix abzuweichen. Die Leute haben sich daran gewöhnt. Sie wollen nicht, dass wir alles radikal anders machen, einfach damit’s anders aussieht.

«Das Gute: Bugs sind Dinge, die wir fixen können. Wäre das grundlegende App-Design nicht gut, hätten wir ein Problem.»

Und der zweite Grund?
Wenn wir eine bereits existierende App als Basis genommen hätten, hätten wir nicht zu viel daran verändern dürfen. Keine Risiken eingehen dürfen. Die Leute nutzen die App ja schon. Ausprobieren und Experimentieren geht da nicht. Das Risiko, das wir etwas hätten kaputt machen können, war zu gross.

Was kostet überhaupt die Entwicklung einer solchen App?
Unser Budget beträgt 5 Millionen Franken pro Jahr. Die fliessen nicht nur in die Forschung und Entwicklung, sondern auch in den Unterhalt der Infrastruktur, das Erstellen der Untertitel und die Lizenzgebühren, die wir für unsere Inhalte zahlen. Die verschlingen fast am meisten Gelder.

Wie lange bleibt denn so ein Inhalt auf Play Suisse verfügbar?
Etwa zwischen sechs Monate und drei Jahre. Dann verschwinden die Inhalte wieder oder wir verlängern die Lizenzen. Ich meine, das ist eine gute Länge. Wenn sich jemand etwas auf seine Liste tut, dann, um den Inhalt innerhalb der nächsten drei, vier Monate anzuschauen.

«Mein Traum wäre es, das Montreux-Jazz-Festival ins Wohnzimmer der Schweizer zu streamen.»

Ihr aber dürft weiter rumexperimentieren?
Korrekt. Unser 5-Millionen-Budget muss aber ins richtige Verhältnis gesetzt werden. Bei der SRG reden wir insgesamt von einem Budget von 1,6 Milliarden Franken jährlich. Davon zwacken wir 5 Millionen jährlich ab und machen mit 17 Leuten Play Suisse daraus.

«Wenn es einen Platz gibt, wo sowas möglich ist, dann auf Play Suisse.»

Klingt super, aber auch etwas heuchlerisch. Bei der SRG laufen solche Sachen ja jetzt schon meistens eher um Mitternacht. Sicher nicht zur Primetime.
Genau deshalb ist das Fenster, das Play Suisse bietet, ja auch so wichtig. Wir können da einspringen, wo der Sender oder andere Player wie Netflix fehlen und die ungesehenen Schweizer Arthouse-Produktionen aus der Versenkung holen.

Selbst, wenn das nicht gerade Traffic-Treiber sind? Lässt die SRG sowas überhaupt zu?
Who cares! Wir sind Service Public. Und weil wir kein lineares Fernsehen sind, sind wir auch nicht von Quoten und Werbegeldern abhängig. Das ist ja genau das Tolle an Play Suisse. Wir können, dürfen und sollen Risiken eingehen. Das wollen wir voll auskosten.

«Who cares! Wir sind kein lineares Fernsehen, Wir sind auch nicht von Quoten und Werbegeldern abhängig.»

Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann...
Ich nenn dir ein paar Beispiele. Grosse, mehrere Polizeibehörden umfassende Ermittlungen, die sich bis ins Ausland erstrecken. Explosionen. Drohende Terroranschläge. Politverschwörungen, die das Weltgefüge bedrohen. Big country problems halt. Sowas wirkt in der Schweiz nicht glaubwürdig, selbst wenn sie tatsächlich existierten. Aber es sind eben die Themen, die im Ausland Beachtung finden.

Was können wir also tun?
Uns auf sehr lokale, dafür glaubwürdige Geschichten konzentrieren. Die besten Geschichten sind dann diejenigen, die Sachen thematisieren, die uns selber nicht gefallen. Sprich: Dort, wo’s weh tut, hinzuschauen. Dort sind die guten Storys.

«Platzspitzbaby» zum Beispiel.
Ganz genau. Oder «Frieden», aktuell auf Play Suisse. Eine Geschichte, die auch ein historisches Thema beleuchtet, auf das die Schweiz nicht stolz ist. Andere Themen könnte die Waffenproduktion sein. Oder Verdingbuben. Filme über solche Sachen sind oft erfolgreich. Aber genau weil wir nicht gerne hinschauen, tun sich viele Filmemacher schwer damit.

Ich hätte eine Drehbuchidee. Was haltest du davon: Eine gescheiterte Schlagersängerin und ein gutherziger Behinderter helfen der Grossmutter beim Coming-Out. Die rebellische Tochter hilft. Titel: NEBEN­WIRKUNGEN.
Oh Gott.

Okay, die Idee stammt nicht wirklich von mir. Ich habe sie mit dem Schweizer Film Generator generiert. Übrigens ein Tool aus der SRG-Late-Night-Show «Deville». Da könnten doch so manch mutige Ideen hergeholt werden.
Viel Glück mit dem Cocktail (lacht).

Ich danke dir fürs Interview, Pierre.
Ich danke dir.


Pierre-Adrian Irlé leitet Play Suisse, die neue nationale Streaming-Plattform der SRG SSR. Zuvor arbeitete Pierre-Adrian als Film- und Fernsehproduzent, Autor und Regisseur.

Er hat einen Bachelor-Abschluss in Management von der Bocconi-Universität in Mailand und einen MSc in internationalem Business von der HEC Paris. Heute baut Pierre-Adrian nicht nur Play Suisse auf, sondern klettert auch gerne auf Berge.

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Ich schreibe über Technik, als wäre sie Kino, und über Filme, als wären sie Realität. Zwischen Bits und Blockbustern suche ich die Geschichten, die Emotionen wecken, nicht nur Klicks. Und ja – manchmal höre ich Filmmusik lauter, als mir guttut.


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