Hintergrund

MIL-STD-810: Etikettenschwindel mit Militärnorm?

Martin Jud
8.5.2019

Immer mehr Produkte sind mit der US-Militärnorm «MIL-STD-810» zertifiziert. Sie steht wie die IP-Zertifizierung für Notebooks, Smartphones und Wearables, die besonderen Umweltbelastungen standhalten. Doch stimmt das wirklich?

Was soll die Militärnorm bringen?

Nebst einigen technischen Errungenschaften gehört auch die Militärnorm MIL-STD-810 dazu. Die erste Version der Norm entstand Anfang der 1960er-Jahre. Zwischenzeitlich wurde sie siebenmal überarbeitet. Aktuell genormte Produkte kommen mit der sechsten Revision «G» aus dem Jahr 2008 daher.

Seit dem 31. Januar 2019 gibt es die siebte Version. Das Dokument, das sämtliche Testmethoden und Bedingungen beschreibt, umfasst mit der Revision «H» 1089 Seiten und ist damit sehr ausführlich.

Folgende Tests gehören zur Militärnorm:

Was bringt die Militärnorm wirklich?

Wenn du nach dem Durchsehen der Tabelle denkst, dass dein Smartphone mit Militär-Zertifizierung gegen Temperaturschock oder Pilzbefall geschützt ist, hast du dich geschnitten. Und jetzt kommt's:

Damit ein Hersteller sein Produkt mit dem Aufdruck «MIL-STD-810» versehen darf, muss dieses Produkt nur einen der insgesamt 29 Tests bestehen.

Das wirft ein ganz neues Licht auf die Militärnorm. Für uns Kunden bedeutet dies, dass die Zertifizierung keine klare Information in sich birgt.

Hier musst du nun beim Doppelsternchen auf der Website das Kleingedruckte lesen gehen, um Genaueres zu erfahren. Also falls es das Kleingedruckte überhaupt gibt.

Noch mehr Kundenverarsche?

Doch selbst wenn du Kleingedrucktes und Details zu den wirklich gemachten Tests findest, bleibt die Norm überaus fragwürdig. Denn da sind noch mehr Ungereimtheiten:

Im Vergleich zur IP-Zertifizierung hat die Militärnorm keinen bindenden Charakter. Will heissen, dass die auf 1089 Seiten beschriebenen Testmethoden beliebig auf das zu testende Gerät angepasst werden können. Ausserdem dürfen die Hersteller selbstständig testen.

Für uns Kunden bedeutet dies, dass wir Versprechen wie «MIL-STD-810H zugelassen», «MIL-STD-810H zertifiziert», «nach MIL-STD-810H entworfen» oder «bestandener MIL-STD-810H-Test» keine Beachtung schenken sollten. Solange keine detaillierte Beschreibung der Tests seitens Hersteller vorliegt, sollten wir uns lieber an IP-Zertifizierungen orientieren.

Noch ein kleiner Aufreger zum Schluss: Gemäss Aussagen von verschiedensten Seiten und Foren soll es auch Hersteller geben, die überhaupt keine Tests machen, dennoch aber mit MIL-STD-810 werben. So steht selbst im englischen Wikipedia-Eintrag: «When queried many manufacturers admit no testing has actually been done and that the product is merely designed/engineered/built-to comply with the standard.»

Zu Deutsch:

Auf Nachfrage geben viele Hersteller zu, dass keine Tests durchgeführt wurden und dass das Produkt lediglich so konzipiert, entwickelt und gebaut wurde, dass es der Norm entspricht.

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Der tägliche Kuss der Muse lässt meine Kreativität spriessen. Werde ich mal nicht geküsst, so versuche ich mich mittels Träumen neu zu inspirieren. Denn wer träumt, verschläft nie sein Leben.


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