Hintergrund

Heidi geht steil – Raumfahrtnation Schweiz, Episode 3

Martin Jud
18.3.2020

Rakete HEIDI steht in der Wüste, der Countdown läuft. Es folgt ohrenbetäubender Lärm, begleitet von Jubel – die Nackenhaare stehen. Das Triebwerk beschleunigt auf fast 1000 km/h. Unglaubliche Kräfte wirken auf das Flugobjekt. Dann öffnet sich der Fallschirm und nach weniger als drei Minuten folgt unter Freudentaumel der Touchdown.

Dennoch waren die Mühen nicht vergebens, denn die Studenten hinter der Raumfahrt-Initiative nutzen die Erkenntnisse aus der Misere, um alles besser zu machen. Die zweite Rakete HEIDI wird im März 2019 fertiggestellt.

Falls du erfahren möchtest, was alles in HEIDI steckt und wie ein frisches Raketenprojekt angegangen wird, liest du dies in der zweiten Episode.

HEIDI im Formel-1-Windkanal und erster Testflug

Ende März ist es endlich soweit. HEIDI ist bereit für erste Tests, was viel Stress bedeutet. Paul, der sich zur Verfügung gestellt hat, aus persönlicher Sicht vom Projekt zu erzählen, erklärt mir dazu: «Die letzte Märzwoche war richtig zäh. Die ersten Raketentests standen an und wir klebten montags die letzten Rohre zusammen. Leider mussten wir danach feststellen, dass wir unsauber gearbeitet haben – gewisse Teile wollten nicht zusammenpassen.»

Daher entscheidet sich das Team, eine Nachtschicht einzulegen. Sie schneiden überstehendes Material zurecht, schleifen und kleben erneut. Gegen ein Uhr in der Früh ist die Feuerwehrübung abgeschlossen. Wenige Stunden später, um fünf Uhr, erscheinen sie erneut auf der Arbeit.

«Das musste sein, da am Mittwochnachmittag ein Windkanaltest bei Sauber angesagt war und die frisch geklebten Raketenteile schnellstmöglich in den Ofen mussten, damit sie bis am kommenden Tag aushärten konnten.»

Am Mittwoch folgt dann direkt vor Saubers Windkanal der erste Zusammenbau sämtlicher Raketenteile:

«Wir waren sehr nervös, da alles auf den letzten Drücker geschah, doch der Zusammenbau klappte ohne Probleme. Danach wurde HEIDI im Windkanal von Sauber montiert. Es folgten drei Stunden, in welchen die Air Brakes immer wieder aus- und eingefahren wurden. Gemessen haben wir den von den ausgefahrenen Platten erzeugten Luftwiderstand und wie sich die Rakete bei verschiedenen Anströmungswinkeln des Luftstroms verhält.»

Die gesammelten Daten werden nach den Windkanaltests in eine Simulation des künftigen Fluges übertragen. Aus dieser können neue Rückschlüsse gezogen werden, die schlussendlich direkt in den Kontrollalgorithmus der Rakete fliessen.

Paul und seine Kollegen haben keine Zeit zum Verschnaufen. Nach dem Windkanal bleiben zwei Tage für die Vorbereitungen des ersten Raketentestfluges. Dieser findet im Kanton Jura statt, was aus organisatorischer Sicht nicht ganz optimal ist. Denn in der Schweiz herrschen strenge Vorschriften. Unter anderem benötigst du ein Feld, das doppelt so breit ist, wie du hoch fliegen möchtest.

Wie du im Video sehen kannst, verläuft der Test gut. Die Fallschirme öffnen sich wie gewünscht. Einzig die Studierenden leiden etwas, da keiner daran dachte, schattenspendende Zelte mitzunehmen. Der erste richtige Sonnentag des Jahres hinterlässt viele strahlende Gesichter mit Sonnenbrand.

Auf in die Wüste von New Mexico

Nach den Tests bleiben dem Team noch rund zweieinhalb Monate, die zur Optimierung der Rakete und Vorbereitung auf den Spaceport America Cup genutzt werden. Unter anderem muss auch der Transport der Teile in die USA aufgegleist werden. Um keine Probleme mit dem Zoll zu bekommen, wird das Triebwerk in den USA gekauft und direkt nach New Mexiko geliefert.

Es folgen der Campaufbau und das Zusammenbauen der Rakete, allerdings noch ohne Motor. Um 13 Uhr ist die Rakete fertig. Genauso wie die übermüdeten und etwas unterzuckerten Studenten. Die Nerven liegen blank, richtig denken kann nach all den Strapazen bei extremer Hitze keiner mehr. Manche machen sogar bereits spontan ein Nickerchen im Campingstuhl.

Als dann auch noch starker thermischer Wind aufkommt, entschliesst sich das Team kurzerhand, den Start auf Donnerstag zu verschieben. Und so fährt der Grossteil des Teams abends zurück nach Las Cruces, um vor dem wichtigen Tag zumindest einige Stunden Schlaf zu bekommen. Ein Rumpfteam des Projekts übernachtet derweil auf Feldbetten in der Wüste, um die Rakete zu bewachen.

HEIDIs grosser Tag

Der Tag des Raketenstarts beginnt erneut mitten in der Nacht. Um zwei Uhr steht das Team auf, da es um fünf Uhr den vor dem Flug obligaten (zweiten) Sicherheitscheck durchführen möchte.

Nach eineinhalb Stunden Fahrt zum Camp unterzieht das Team die Rakete nochmals einem visuellen Check. Danach baut es den Motor ein und sucht die Sicherheits-Crew des Spaceport America Cup auf. Um halb sechs Uhr bekommt Team ARIS grünes Licht. Nun darf HEIDI an den Start. Die Rakete wird ohne Umschweife auf einen kleinen Transporter geladen und zur Startrampe gefahren.

Ich will von Paul wissen, wie er die letzten Stunden vor dem Start erlebt hat:

«An diesem Tag hat Zeit nicht mehr existiert. Zehn Minuten fühlten sich wie zwei Stunden an. Ich könnte heute nicht mehr sagen, was wie lange gedauert hat. Wenn du so lange auf einen Moment hingearbeitet hast, erscheint dir die Welt, wenn es soweit ist, überaus unwirklich. Doch irgendwann kurz vor zehn Uhr war es dann soweit und wir waren endlich dran.»

Konkret ist Paul sogar persönlich dran. Erst kurz vor dem Start entscheidet sein System-Engineer-Kollege, dass er das Spektakel möglichst nah mitverfolgen möchte. Eigentlich hätte dieser Engineer die Ehre gehabt, den Startknopf aus einigen hundert Meter Entfernung zu drücken. Eine Ehre, die nun auf Paul übergeht. Ein unvergesslicher Moment:

HEIDI fliegt wie gewünscht und das Team hat während dem Flug dreimal Grund zum Jubeln. Beim erfolgreichen Start, bei Öffnung des Hauptfallschirms und beim Touchdown. Obschon niemand genau weiss, wie gut HEIDI in der Gesamtwertung abschneidet, kann sich keiner mehr halten. Nach monatelanger Arbeit fällt sämtliche Anspannung ab – das Team verfällt in Freudentaumel.

Team ARIS im Glück: HEIDI holt den zweiten Platz

Die Fluganalyse ergibt, dass HEIDI das Ziel von 3048 Metern (10 000 Fuss) um sieben Prozent verpasst hat. Der Motor hat acht Prozent schwächer performt als geplant. Ausserdem waren die Beschleunigungskräfte 2 g stärker als erwartet.

Das ist ein wirklich gutes Ergebnis. In der Gesamtwertung des Wettbewerbs können mit dem Flug etwas mehr als ein Drittel der Gesamtpunktzahl geholt werden. Zwei Tage später erfährt Team ARIS an der Siegerehrung, wie gut es tatsächlich gelaufen ist. Die Schweizer Studenten holen für den HEIDI-Flug 268 von 350 Punkten. Die restlichen Punkte werden für das Engineering, für die Dokumentation zur Technologie sowie fürs Recovery-System vergeben.

Selbst das Auftreten des Teams fliesst in die Wertung ein. Dank dem verwendeten Cubesat-Standard und dem zeitlich früh angesiedelten Raketenstart am Donnerstag holt das Team auch noch 100 Bonuspunkte. Damit schafft es HEIDI in der angetretenen Kategorie unter über 50 Mitbewerbern auf den zweiten Rang. Über sämtliche Kategorien gesehen, holt Team ARIS den vierten Platz unter 122 Teams.

Bravo!

Demnächst: ARIS erste Überschall-Rakete

Mehr Infos zur Überschallrakete EULER findest du hier.

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