Meinung

«Ghost of Yōtei» traut sich nicht, eine Pause einzulegen

«Ghost of Yōtei» bewegt sich auf den Spuren von «Red Dead Redemption 2». Das Samurai-Game traut sich aber nicht, konsequent in die grossen Fussstapfen zu treten. Zu gross ist die Angst, das Publikum könnte sich langweilen.

Nur knapp sind mein Pferd und ich einem Hinterhalt entkommen. Mitten in einem Schneesturm haben uns feindliche Samurai überfallen. Ihr Blut wird bereits wieder von einer frischen Schneeschicht bedeckt. Mühsam und mit schwindenden Kräften bahnen wir uns einen Weg durch hüfthohe Schneemassen. Langsam beginnt sanft ein Lied zu spielen. Ich fühle die Schwere des Moments und die Gefahr für meine Kriegerin Atsu in der Kälte zu erfrieren.

«Ghost of Yōtei» erinnert mich in diesem Moment an Rockstars Western-Epos «Red Dead Redemption 2». Das hat einige solcher ruhigen, aber stimmungsgeladener Momente.

Atsu kämpft sich durch den Schnee, begleitet von stimmungsvoller Musik. Doch der Moment ist nicht von Dauer.
Atsu kämpft sich durch den Schnee, begleitet von stimmungsvoller Musik. Doch der Moment ist nicht von Dauer.
Quelle: Domagoj Belancic

Doch während mir diese Gedanken kommen, fadet die Musik bereits wieder aus und die Szene ist vorbei. Knapp 40 Sekunden hat sich das Spiel Zeit genommen. Nicht zum ersten Mal fällt mir auf, dass Sucker Punch, das Studio hinter «Ghost of Yōtei», sich nicht traut, konsequent auf die Bremse zu treten.

Bloss nicht langweilen

Bereits zu Beginn gibt es eine ähnliche Szene. Atsu reitet nach einem emotionalen Moment, begleitet von stimmungsvoller Musik, durch eine malerische Schlucht. Das Spiel mutet mir nicht zu, dass ich diesen Spaziergang ohne Beschäftigung überstehe. Links und rechts des Weges sind Ressourcen platziert, die ich einsammeln kann. Als ob mir das Spiel mitteilen will: Ich weiss, dass du bereits wieder zum Handy greifen willst. Hier hast du etwas zu tun.

Ich gebe es zu, ich gehöre durchaus zu dieser Kategorie Spieler, die beim geringsten Anzeichen von Langeweile am Handy rumtippen. Aber selbst ich geniesse ruhige Momente, in denen ich eine Szene sinken lassen kann. Dafür bleibt in «Ghost of Yōtei» keine Zeit.

Das Spiel sieht meist aus wie ein Kunstwerk, darunter verbirgt sich aber ein Openworld-Game wie viele andere.
Das Spiel sieht meist aus wie ein Kunstwerk, darunter verbirgt sich aber ein Openworld-Game wie viele andere.
Quelle: Sucker Punch

Mit seiner traumhaften Kulisse, der bedeutungsschwangeren Erzählung und dem bis ins hinterste Menü durchgestylten Design suggeriert mir «Ghost of Yōtei» immer wieder, dass es gerne wie «Red Dead Redemption» wäre. Das Western-Epos setzt besonders im zweiten Teil bewusst auf Langsamkeit, um Szenen wirken zu lassen. Aber auch im ersten Spiel werden sich noch die meisten an den Moment erinnern, wenn man das erste Mal die Grenze zu Mexiko überschreitet und «Far Away» von Jose Gonzales spielt. Unvorstellbar, dass der Track nach 30 Sekunden abgeschnitten wird.

Alles ist unmittelbar

Sucker Punchs Openworld-Samurai-Game erinnert mich zuweilen an Mobile Games. Diese sind darauf getrimmt, dich konstant zu stimulieren, damit du möglichst lange dranbleibst. Auch in «Ghost of Yōtei» kann ich keine 50 Meter reiten, ohne über ein Banditen-Camp, eine Wolfshöhle oder einen Geschichtenerzähler zu stolpern. Das fühlt sich für mich nicht wie eine echte, lebendige Welt an. Dafür ist alles viel zu dicht.

Als ich einem Dorf helfen soll, Banditen zurückzuschlagen, meint ein Bewohner, er habe in der Nähe eine Explosion gehört. Vielleicht sollte ich da mal nachschauen. In der Nähe? Die betreffende Stelle befindet sich unmittelbar ausserhalb des Dorfs hinter dem nächsten Felsen. Es hat sich kaum gelohnt, aufs Pferd zu steigen.

Die Karte ist zwar nicht überwuchert mit Symbolen, beim Spielen ist dennoch alles viel zu nahe beieinander.
Die Karte ist zwar nicht überwuchert mit Symbolen, beim Spielen ist dennoch alles viel zu nahe beieinander.
Quelle: Domagoj Belancic

Ähnliches ereignet sich, als ich über eine beschädigte Brücke reite. Am anderen Ende spricht mich ein Kommandant an und beklagt sich, dass die Brücke jede Nacht von Unbekannten sabotiert werde. Weil sie keine Kapazitäten haben, das Problem selbst in die Hand zu nehmen, soll ich mich auf die Lauer legen. Die geeignete Stelle kundschafte ich mit dem Fernglas aus – sie ist keine 50 Meter von der Brücke entfernt. Ich sehe sie mit blossem Auge. Es illustriert perfekt die Absurdität einer Welt, die vorgibt, authentisch zu sein, im Kern aber auf minimale Reibung setzt.

Ein anderes Mal suche ich nach einer legendären Rüstung. Dafür muss ich mehreren blauen Bändern folgen, die meist an alten, knorrigen Bäumen aufgehängt sind. Auf dem Weg zum letzten reite ich aus Versehen zu nahe an einem Wolfsbau vorbei und löse unfreiwillig eine andere Quest aus. Und natürlich sprintet der Wolf, dem ich folgen muss, in die andere Richtung.

Die nächste Ablenkung ist meist nur Sekunden entfernt.
Die nächste Ablenkung ist meist nur Sekunden entfernt.
Quelle: Domagoj Belancic

Ich kann keinen Stein werfen, ohne eine Nebenaufgabe zu treffen. Das ist toll, wenn ich konstante Dopamin-Hits suche, aber schlecht, wenn ich versuche, in die Welt einzutauchen. Für mich ist «Ghost of Yōtei» darum insgesamt eine Enttäuschung. Im Kern bleibt es ein Openworld-Titel wie viele andere, nur dass es sein Checklisten-System eleganter verpackt.

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Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken. 


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