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Ein Film als Warnung an die Politik

«Les Misérables» von Regisseur Ladj Ly ist eine fiktionale Abbildung der Wirklichkeit von Pariser Vororten. Es geht um Gewalt, Diskriminierung und Chancenungleichheit. Dabei macht der Film klar: Simples Gut und Böse gibt’s hier nicht.

Es ist Fussball-WM. Frankreich feiert. Die Strassen sind von Menschen und Flaggen gesäumt. Blau, weiss und rot dominieren – die Nationalfarben Frankreichs. Immer wieder wird die Mannschaft mit «Allez, les Bleus» angefeuert. Alle sind gleich. Alle verfolgen dasselbe Ziel. Alle sind fröhlich.

Damit ist nach der Einstiegsszene Schluss.

Die Kinder wachsen ohne Perspektive, dafür mit umso mehr Misstrauen gegenüber Staat und Autorität auf. Die französische Gesellschaft schert sich nicht um sie, warum also sollten sie sich um gesellschaftlich konstruierte Regeln und Normen scheren?

So ist der Mikrokosmos Montfermeils von Interessenskonflikten geprägt. Jeder hat seine eigene Agenda und kämpft in Form von Überleben für ein besseres Leben: Rat holt man sich beim dem Kebabverkäufer, Islam-Konvertit und Ex-Kriminellen Salah (Almamy Kanoute). Der Bürgermeister (Steve Tientcheu) ist gleichzeitig Gangster, der die Polizei gerne aus dem Weg räumen würde. Und die Muslimbruderschaft versucht, das Viertel spirituell nach den eigenen Regeln zu leiten.

Menschen und ihre Emotionen sind kompliziert

Einzig die Wut auf die Lethargie des Staates eint sie. Die Wut auf tägliche Diskriminierung durch die Polizei. Die Wut darauf, im Stich gelassen zu werden. Wut ist ohnehin die zentrale Emotion im Film. Gwada und Chris benutzen sie, um aufzuräumen, durchzugreifen und sich Respekt zu verschaffen. Die Jugend nutzt sie als Motor zur Auflehnung gegen Autoritäten, vor allem die Polizei. Gewalt ist an der Tagesordnung – auf beiden Seiten.

Dialog als Verbindung von Wut und Verständnis

Und darin ist der Film verdammt gut. Er macht uns Zuschauern die Menschen und ihre Schicksale zugänglich. Sogar dem groben Chris, der mit sexistischen und rassistischen Sprüchen nur so um sich wirft, wird durch einen Einblick in sein Familienleben Menschlichkeit zugesprochen. Wir alle werden von denselben Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen angetrieben. Dennoch tendieren wir als Gesellschaft wie auch als Individuen dazu, uns über Unterschiede zu definieren.

Uns als Zuschauer wird klar: Wut dient dazu, auf Missstände aufmerksam zu machen. Solidarität, um sie zu überwinden.

Ein Fingerzeig an die Politik

Der Film wirkt so authentisch, ist so nah an den Menschen dran, dass er schon beinahe Züge eines Dokumentarfilmes besitzt. Filmerisch wird dieses Gefühl durch das Einsetzen einer Handkamera hervorgerufen. Thematisch durch die französischen Unruhen von 2005, die den Film inspirierten.

Regisseur Ladj Ly wuchs selbst in Montfermeil auf und hat die Unruhen hautnah mitbekommen. Diese persönliche Verstrickung von ihm und der Schauspieler, die auch hauptsächlich aus Montfermeil stammen, bestärkt den Film in seiner Intensität und Authentizität. Jede Emotion kommt an.

Merkt Euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloss schlechte Gärtner.
Victor Hugo, «Les Misérables»
Headerbild: Filmcoopi

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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


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