Kritik

Düster, packend und einfach unfassbar gut: «The Drifter» im Test

Wäre Max Payne ein australischer Landstreicher, der sich in einem pixeligen Point-and-Click-Adventure verirrt hat, könnte er «The Drifter» sein. Nur dass er in diesem Spiel Köpfchen statt Knarren einsetzen muss.

Ein Schlag auf den Hinterkopf und alles wird schwarz. Als ich wieder zu mir komme, bin ich unter Wasser. Ich ringe nach Luft und versuche, an die Oberfläche zu schwimmen. Aber meine Hände und Füsse sind gefesselt und eine Papiertüte auf meinem Kopf versperrt mir die Sicht. Irgendwie schaffe ich es, mein Messer aus der Hosentasche zu kramen. Ich durchschneide die Fesseln und reisse mir die Tüte vom Gesicht.

Würde mir nicht ohnehin die Luft ausgehen, wäre mir der Atem spätestens jetzt im Hals stecken geblieben. Ich bin umgeben von leblosen Körpern, die wie Bojen im Wasser treiben. Sie hatten nicht das Glück, ein Messer dabei zu haben. Bevor ich mich zu ihnen ins nasse Grab geselle, rette ich mich mit letzter Kraft an die Wasseroberfläche. Geschafft! Wobei, mein Abenteuer beginnt gerade erst.

Retro nur auf den ersten Blick

«The Drifter» ist ein typisches Point-and-Click-Adventure, die Lucas Arts in den 90er-Jahren gross gemacht haben. Und genauso sieht es auch aus: kantige Pixelgrafik und blockartige Schrift, die kaum zu lesen ist. Ein Traum für Liebhaber wie mich, die mit diesen Spielen aufgewachsen sind.

Bei den Dialogen, die in keinem Adventure-Game fehlen dürfen, klicke ich auf Bilder statt Text. Ist eine Fragemöglichkeit erschöpft, wird das Bild ausgegraut. So weiss ich immer sofort, wo ich stehe. Finde ich etwas Neues heraus, kann es sein, dass neue Fragemöglichkeiten dazukommen. Wenn ich feststecke, hilft es, erneut bei allen Personen vorbeizuschauen und zu kontrollieren, ob es neue Fragen gibt.

Die Kapitel in «The Drifter» beschränken sich mit einer Ausnahme auf eine Handvoll Schauplätze. Allzu viele Personen kommen darin nicht vor. Ich muss nur zweimal den Review-Guide konsultieren, weil ich zwar weiss, was verlangt ist, aber an der Umsetzung scheitere.

Hilfreich ist auch das Journal. Das hält mit Bildern und kurzen Textbeschreibungen die wichtigsten Ereignisse fest und verrät mir, was mein aktuelles Ziel ist.

Der Rest des Casts überzeugt ebenfalls. Bronwyn Turei trifft als Sarah Carter die perfekte Balance zwischen vorwurfsvoller und mitfühlender Ex-Frau, die nicht auf den Mund gefallen ist. Shogo Miyakita wiederum mimt den etwas klischierten Polizisten Hara, der mich erst jagt und sich schliesslich auf meine Seite schlägt. Er nennt mich immer «Boss». Wie könnte ich ihn nicht mögen?

Keine Dreiköpfigen Affen

Was «The Drifter» von anderen Adventure-Games unterscheidet, ist die Tonalität. Zwar hat das Spiel auch eine humorvolle Seite, schlägt aber insgesamt einen deutlich düstereren Ton an als andere Genrevertreter. Es dauert denn auch nicht lange, bis Carters Pixelinnereien den Bildschirm tapezieren. Zwischenzeitlich fühle ich mich sogar etwas an «Saw» erinnert.

«The Drifter» ist erhältlich für PC, Mac und Linux und wurde mir von Powerhoof zur Verfügung gestellt.

Fazit

Lucas Arts hätte es nicht besser gekonnt

«The Drifter» fesselt mich von der ersten Sekunde an und lässt mich bis zum Schluss nicht los. Das hat noch kein Adventure-Game geschafft. Der Soundtrack schwirrt auch Tage später noch in meinem Kopf herum. Genau wie Carters dramatischen Monologe, wenn ich ihm mit einem falschen Klick wieder einen grausamen Tod beschert habe. Und das zauberhafte Pixeldesign setzt jeden Schauplatz einzigartig in Szene.

Ich liebe «Monkey Island». Der letzte Teil gehört zu meinen Lieblings-Point-and-Click-Games. Aber die dramatische Erzählweise und das fast perfekte Spieltempo von «The Drifter» übertrumpfen selbst diese Genre-Legende. Die Rätsel sind einleuchtend und die Geschichte überrascht immer wieder mit unerwarteten Wendungen. Sie schreckt nicht vor schweren Themen zurück, hat aber dennoch den einen oder anderen Witz im Gepäck.

«The Drifter» ist ein packender Thriller, der dich auf eine wilde Achterbahnfahrt mitnimmt, die du dir nicht entgehen lassen solltest.

Pro

  • packende Geschichte
  • wunderschöne Pixelgrafik
  • cineastischer Soundtrack
  • gutes Tempo

Contra

  • gelegentlich etwas Trial-and-Error

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Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken. 


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