
Hintergrund
In der automatisierten Fahrzeug-Zukunft herrscht Wilder Westen
von Philipp Rüegg
Eines der zwei grossen Themen der CES in Las Vegas ist der Verkehr. Die Fragen: Wie fahren wir in fünf oder zehn Jahren? Und noch viel spannender: Wie können wir Technologie neu interpretieren, damit sie fährt?
Der Kommentar von User Fabian unter dem Feed zur CES 2020 klingt ominös: Er will mehr über «Level 4 und 5 Autonomous Vehicles» wissen. Damit wir alle auf demselben Stand sind: Die fünf Level des Fahrens, wie der Automobilkonzern BMW sie definiert.
In der Praxis kann das merkwürdige, aber interessante Formen annehmen. Denn an der CES 2020 in Las Vegas gibt es zwei Themen, die dominieren: Frauen und ihre Rolle in der Tech-Welt und die Zukunft der Mobilität. Keiner bezweifelt, dass sowohl Frauen in den kommenden fünf Jahren die Welt verändern werden als auch die Art, wie wir uns fortbewegen radikal anders wird.
Im Artikel fokussiere ich mich hier auf Autos. Der Grund ist nicht, dass da keine Elektroroller oder EV-Trucks rumstehen, aber das Auto ist das, was am ehesten bewegt und auch als physisches Objekt genug Platz bietet, die ganze Bandbreite an Technologie mobil zu verpacken. Aber ja, da sind auch Lastwagen – wo vor allem die Reichweite auf Akku zählt – und Elektroroller, die vor allem als Service angepriesen werden.
Das Auto, das im Wesentlichen eine Kugel auf Rädern ist, ist definitiv out. Wo im vergangenen Jahr noch alle auf einem Parkplatz mit so einer Gurke rumgekurvt sind, zeigen sich sowohl neue Hersteller wie auch Traditions-Autoschmieden mit neuen Ideen und Formen.
Ford prahlt im laufenden Jahr und hängt eben mal schnell einen Ford Mustang Mach E an die Wand. Draussen, vor der Main Hall, steht ein Ford Mustang GT500 Shelby. Zwei Autos, die beide auf ihre Art beeindrucken. Der GT500 ist ein 820 PS Kraftpaket mit einem 5.2 Liter Motor. Der Mach E markiert einen Richtungswechsel, denn der Mach E ist ein Elektrofahrzeug (EV). Allgemein: Wenn du kein EV präsentierst, dann musst du an der CES nicht präsentieren wollen.
Mit dem Mach E geht Ford ein Risiko ein, denn Fahrer erwarten etwas vom Wort Mustang. Der Mustang hat Kraft, ist etwas wild und macht viel Lärm. Den GT500 hörst du lange, bevor du ihn siehst. Daher steht der Mach E mit dem Tablet in der Mitte der Konsole und seinem Elektromotor harscher Kritik entgegen.
Doch Ford lässt sich nicht beirren. Laut Angaben am Stand laufen die Vorbestellungen gut und der Mach E erfreut sich beim Fachpublikum grosser Beliebtheit. Weit spannender als das Fahrzeug selbst, sind die Dinge, die um den Mach E herumstehen. Da ist eine Zapfsäule, die einem Tesla Supercharger zwar gleicht, aber in blauweiss mit Ford-Logo versehen ist.
Ford glaubt an die Zukunft des EV.
Mit dieser kommen eine Unzahl Möglichkeiten. Mit vergleichbar einfachen Mitteln können die meisten Bordsysteme automatisiert und versmartet werden. Daher fällt der GT500 als technologisches Relikt eher in die von BMW definierte Stufe 1, mit einem Hauch von 2, während der Mach E solid in der zweiten Stufe mit Anwandlungen von Stufe 3 ist.
Die grosse Überraschung kommt von Sony. Der Konzern ist für vieles bekannt: Spielekonsolen, Audiosysteme, Fernseher, Kameras und so ziemlich alles andere, was du dir vorstellen kannst. Wenn es einen Stecker braucht, kannst du sicher sein, dass Sony es irgendwann mal gemacht hat.
Jetzt zeigt Sony ein Auto. Der Vision S ist das Highlight am Stand des japanischen Konzerns. Nicht, weil alle ihn kaufen möchten – es ist noch nicht bekannt, ob der Vision S je in den Handel kommen wird –, sondern weil er eines zeigt: Die Kraft der Technologie.
Das Konzept hinter dem Vision S ist nicht, einen «Tesla-Killer» zu schaffen. Denn dieser Begriff fällt oft. Ist das nun das Auto, das den Tesla vom Thron stossen wird? Ja, nein, vielleicht… doch die Frage stellt sich Sony nicht. Sony will zeigen, was ihre Technologie kann.
Die Sensoren im Auto stammen aus Sonys Imaging Division, es sind also dieselben, die du in einer Sony-Fotokamera findest. Der Sound stammt aus der Sound Division, wo gerade der 360 Grad adaptive Sound entwickelt wurde. Die Bildschirme im Auto werden von Sonys TV-Division beigesteuert. Alle diese Teile sind leistungsfähig, kompakt und schön genug, um ein Auto der Stufe 3, mit etwas Stufe 4 drin, zu betreiben und zumindest theoretisch serienreif zu machen. Da die Teile aus allen Ecken Sonys stammen, steht einer Serienproduktion des Vision S nur wenig im Weg.
Ab Stufe 4 hören wir Zukunftsmusik. Nur wenig ist da gesetzt und es gibt an der CES im Wesentlichen zwei Stossrichtungen. Da ist die fahrende Blase, die rund daherzuckelt und so gar nicht nach Auto aussieht. Sie soll den öffentlichen Verkehr ersetzen, das Auto demokratisieren. Stell dir das als eine Art autonomes Uber-System vor. Per App rufst du dir eine fahrende Blase vor die Nasenspitze, sagst ihr, wo es hingeht und dann setzt du dich hin und machst irgendwas, bis du da bist. Fahren musst du nicht. Oder nur im Ausnahmefall. Diese Systeme, ganz klar Stufe 5, sind nach wie vor Zukunftsmusik. Da steht ein Prototyp, der so aussieht, wie das echte Teil dereinst aussehen soll. Fahren geht nach wie vor nur so halb, meist auf fix abgesteckten Kursen mit Begleitung und On Board Troubleshooting. Doch für sogenannte Last Mile Transports, also Transfers am Flughafen mit fixen Routen und nur dem Menschen als Hindernis sowie wenigen Verkehrsregeln funktioniert das.
Irgendwo im Tal zwischen Stufe 4 und 5 ist eines der ganz grossen Highlights der Messe: Der Mercedes Benz Vision AVTR. Benannt nach dem Film «Avatar» und inspiriert von Ideen des Hollywood-Regisseurs James Cameron auf seinem fiktiven Planeten Pandora, macht der Avtr viel anders. So ziemlich alles. Und es funktioniert. Der Avtr ist ein verkehrsfähiger Prototyp, der vor wenigen Tagen die Runde im Verkehr in Las Vegas gemacht hat.
Als Passagier hast du im Avtr keine Knöpfe mehr. Einzig eine Art Knubbel – dort wo du den Schaltknüppel in einem normalen Auto hast –, dient dir als physisches Bedienelement. Den Rest erfühlt und erkennt der Avtr selbst. Hebst du deine Hand, projiziert ein Laser Symbole auf deine Handfläche. Schliesst du die Hand, nimmt der Avtr den Befehl an. Damit umgeht Mercedes schnell sämtliche Sprachbarrieren.
Der Sitz misst deine Herzfrequenz und lässt das Steuerelement in der Mitte und die Lichter sowie die Spoiler-Zellen auf dem Heck in diesem Rhythmus pulsieren. Der Sitz vibriert im Rhythmus deines Herzschlags. So seltsam das auch klingt, das hat eine sofortige beruhigende Wirkung. Wenn der Mann am Stand sagt, dass der Avtr zum Ziel hat, eine Art Erweiterung deiner Selbst zu sein, dann glaube ich ihm das und stehe dem Konzept nach etwas Probesitzen gar nicht mal so skeptisch gegenüber. Der Avtr fühlt sich gut und vertraut an, selbst wenn so ziemlich alle Referenzpunkte eines normalen Auto-Cockpits fehlen, nicht nur wegen dem Ding mit dem Puls. Es sind die weichen Linien, die sanften Feedbacks, die Einfachheit in der Bedienung – ich bezweifle, dass je einer eine Betriebsanleitung für den Avtr lesen muss – und der Sitz, der sich dir anpasst.
In der Fahrt kümmert sich der Avtr um alles, entmündigt den Fahrer aber doch nicht ganz. Das Bedienelement kann dazu verwendet werden, das Auto entweder ganz selbst zu fahren oder ihm Impulse zu geben. «Fahr schneller» ist ein Druck nach vorne, «Bieg auf die Raststätte» ist ein Druck nach rechts. Die technologische Intelligenz dahinter ist atemberaubend. Denn wenn du dem Avtr sagst, dass du gerne rechts abbiegen willst, dann geht das irgendwie so:
Das alles muss innerhalb von nur wenigen Sekundenbruchteilen in einer sich stetig wandelnden Welt und fliessendem Verkehr geschehen. Das ist grossartig und im Vergleich zu den fahrenden Seifenblasen messe ich – genau wie viele der Anwesenden am Stand – dem Avtr die höheren Erfolgschancen in Sachen «Das ist die Zukunft der Autos» bei.
Sowohl der Mercedes Avtr wie auch der Sony Vision S sind Fahrzeuge, deren Technologie nicht inhärent fremd oder wie aus einem Science-Fiction-Film wirkt. Wir kennen die Kamerasysteme, die Sensoren, den Abgleich mit Datenbanken und die Big Data Features. An der CES sehen wir aber vor allem eines: Eine neue Interpretation der Technologie.
Genau deshalb ist die CES so spannend. Wir sehen Dinge, die wir kennen, aber remixed. Engineers und Tüftler sind hingehockt und haben existierende Geräte kritisch hinterfragt, auf ihre Kernfunktion runtergebrochen und neu aufgebaut, in eine neue Hülle verpackt.
Diese Denkweise führt unweigerlich dazu, dass sich unsere Welt verändert. Aktuell ist gerade der Individualverkehr nahe und zurück in der Redaktion Las Vegas – einem Esstisch in einem Airbnb – fragen wir uns: Was kommt als nächstes?
Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.