Hintergrund

Chronik einer Shitshow: Ein Jahr Musk-Twitter

Debora Pape
27.10.2023

Wir blicken zurück auf ein turbulentes Twitter-, pardon, X-Jahr unter Elon Musks Führung. Falls du den Überblick über die vielen teilweise kuriosen Änderungen auf Twitter verloren hast: Hier bekommst du ihn.

Viele der entlassenen Mitarbeiter gehörten dem Content-Moderationsteam an. Musk hatte sich zuvor immer wieder über die Content-Moderation beschwert: Tweets, die gegen die Regeln der Plattform verstoßen, etwa Falschmeldungen und Hassnachrichten, wurden gelöscht und die entsprechenden Accounts häufig gebannt. Musk sah darin die Redefreiheit eingeschränkt. Nach diesen Entlassungen reagierte Twitter deutlich langsamer oder gar nicht mehr auf gemeldete Tweets.

Dennoch wurden mittlerweile offenbar einige Klagen fallengelassen, weil Twitter seine Schulden bezahlt habe.

November 2022: Die Affäre mit dem blauen Haken

Ein blauer Haken neben dem Namen war bis zur Übernahme durch Musk ein Statussymbol: Nur verifizierte Personen mit einer gewissen Bekanntheit bekamen ihn. So konnten sich die User sicher sein, dass diese Personen die waren, die sie vorgaben zu sein.

Für Trolle standen aber zunächst Tür und Tor weit offen. Die Folge waren nicht nur Chaos und Verwirrung, sondern kurzzeitig auch Milliardenverluste an der Börse: Ein unbekannter Account tweetete unter falscher Identität des großen Pharmaunternehmens «Eli Lilly and Company», dass Insulin zukünftig kostenlos verfügbar sei. Der Aktienkurs des Unternehmens ging in den Keller und es zog sich als Werbepartner von der Plattform zurück.

Stephen King behielt übrigens seinen blauen Haken – obwohl er ihn weder wollte noch dafür bezahlte. Elon Musk ist offenbar ein Fan des Autors.

November 2022: Amnesie für viele gebannte Accounts

Der prominenteste Account, der in der Vor-Musk-Ära wegen seiner Regelverstöße von der Plattform geworfen wurde, war Ex-Präsident Donald Trump. Am 19. November tweetete Musk eine Abstimmung auf Twitter und fragte, ob Trumps Account wiederhergestellt werden sollte. Jeder konnte sich beteiligen und am Ende stimmten über 15 Millionen Menschen ab – 51,8 Prozent der Stimmen setzten sich für Trump ein.

Und so wurde Trumps Account zusammen mit weiteren zuvor gebannten Accounts wiederhergestellt.

Ende 2022: Massenflucht zu Mastodon?

Die Übernahme von Musk, das Bekanntwerden der vielen Entlassungen und auch die Kontroverse über die Wiederherstellung von gebannten Accounts führten zu Twitter-Trends wie #RIPtwitter, #TwitterDown und #GoodByeTwitter. Nutzerinnen und Nutzer drückten darunter ihren Unmut aus.

Viele entschlossen sich, auf der Konkurrenzplattform Mastodon einen Account zu erstellen und auf Twitter einen Link dorthin zu posten. Mastodon verzeichnete allein in den ersten zehn Tagen nach der Twitter-Übernahme 500 000 neue Benutzerkonten – zeitweise konnten die Server dem Ansturm nicht standhalten.

Musk wurde das Gerede über den Konkurrenten auf seiner Plattform dann aber zu bunt und ließ kurzerhand alle Links zu bekannten Mastodon-Servern löschen. Freie Meinungsäußerung hat eben auch für Mr. Musk ihre Grenzen. Am Ende kamen die meisten Abtrünnigen aber doch wieder zurück zum blauen Vogel.

Dezember 2022: Soll er CEO bleiben?

Hierzulande wurde dieser Eklat weniger beachtet, aber in den USA wurde viel darüber diskutiert: Die ungewollte Kennzeichnung verschiedener Medien in den USA und weiteren Ländern als «staatsnahes Medium», später als «staatlich finanziertes Medium». Diese Kennzeichnung suggerierte, dass die Medien nicht unabhängig berichten, sondern staatlich vorgegebene Inhalte publizieren.

Die Sender protestierten und zogen sich teilweise aus Protest von Twitter zurück. Elon Musk persönlich schaltete sich ein, trollte an den Labels herum – er setzte sie etwa bei einem kanadischen Sender auf «69 Prozent staatlich finanziert» – und Ende April wurden die Kennzeichnungen bei westlichen, russischen und chinesischen Medien einfach ganz abgeschafft.

Juni 2023: Blocken oder nicht blocken ist hier die Frage

Am 8. Juni tweetete Musk, dass es nicht sinnvoll sei, andere Posts zu blockieren. Im August legte er nach: Es werde künftig nicht mehr möglich sein, andere Accounts zu blockieren. Zur Erklärung: Blockierte Accounts können nicht mehr mit dem blockierenden Account interagieren und auch dessen Tweets nicht lesen oder darauf antworten.

Musk wollte stattdessen nur eine Form von «Mute» beibehalten: Wer einen Account mutet, sieht dessen Beiträge nicht mehr und kann auch nicht angeschrieben werden. Der gemutete Account kann aber trotzdem die Beiträge der anderen Person sehen und auch darauf antworten. Die Ankündigung, das Block-Feature zu streichen, sorgte für großen Unmut. Umgesetzt wurde sie bisher aber noch nicht.

Juli 2023: Aus Twitter wird X

Twitter ist tot, es lebe X. Ende Juli wurde der blaue Vogel auf weißem Grund im Logo durch ein weißes X auf schwarzem Grund ersetzt. Elon Musk äußerte sich zu der Umbenennung: Er will aus dem Nachrichtendienst eine umfassende «App für alles» machen. Dazu würde der alte Name nicht mehr passen. Was nun aus dem eingebürgerten Verb «tweeten» und dem «Tweet» selbst wird, ließ er offen.

Auch viele Twitter-User haben ihre Gedanken zur Umbenennung «ge-X-t». Ein Nutzer postete ein Bild mehrerer Logos von verschiedenen Pornoseiten: ein X neben dem anderen. Ein anderer meinte, das X stehe bei Software-Anwendungen meistens für «Programm schließen». Ob sich das X in der Wahrnehmung der Menschen wirklich durchsetzen wird, wird sich erst noch zeigen.

Oktober 2023: Verlinkte Websites ohne Vorschau

Bereits im August hatte Musk angekündigt, dass in Tweets verlinkte Websites «aus ästhetischen Gründen» bald ohne Titel und Textauszug angezeigt werden sollen. Mittlerweile wurde die Änderung umgesetzt. Von einer verlinkten Seite ist nur noch das Bild zu sehen. Unten links im Bild befindet sich sehr klein der Domänenname der verlinkten Seite.

Damit ist ein Link kaum von einem geposteten Bild zu unterscheiden. Musk hatte sich wohl darüber geärgert, dass Links zu anderen Websites und somit weg von X führen. Er hielt deswegen Journalisten und Medienschaffende dazu an, ihre Texte doch direkt auf Twitter zu posten – natürlich mit einem Twitter-Blue-Abo (mittlerweile «X Premium»).

Bald: Bezahlen, um zu posten?

Nach X Premium experimentiert X mit weiteren Bezahlmodellen. Möglicherweise können Gratisnutzerinnen und -nutzer X bald nur noch passiv nutzen. Wer selbst Beiträge oder Antworten posten möchte, der könnte eine jährliche Gebühr von einem US-Dollar bezahlen müssen. Tests dazu laufen derzeit auf den Philippinen und in Neuseeland.

Der Betrag ist so niedrig, dass es X dabei vielleicht tatsächlich um Bot-Bekämpfung geht, wie Musk immer wieder angekündigt hatte. Die Nutzung der Plattform durch Bots, also Accounts, hinter denen gar kein Mensch steht, ist für ihn ein großes Ärgernis.

Ob eine solche Gebühr auch in Europa fällig werden könnte, ist aktuell noch unklar.

Wie geht es weiter?

Mittlerweile gibt es Studien, die eine Zunahme von Falschinformationen, Hass und Rassismus auf Twitter/X belegen. Einige davon stellt ein BBC-Artikel zusammen. Musk selbst sieht keinen Anstieg von Hass auf seiner Plattform.

Allerdings konnten Alternativdienste wie Mastodon oder Bluesky bisher nicht die kritische Masse an Usern erreichen, um als echter Nachfolger zu gelten.

Was hältst du von Musks Änderungen auf Twitter? Nutzt du X (noch)? Tweete mir deine Meinung gern in die Kommentare.

Titelbild: Worawee Meepian/Shutterstock

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Fühlt sich vor dem Gaming-PC genauso zu Hause wie in der Hängematte im Garten. Mag unter anderem das römische Kaiserreich, Containerschiffe und Science-Fiction-Bücher. Spürt vor allem News aus dem IT-Bereich und Smart Things auf.


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