Hintergrund

Chronik einer Shitshow: Ein Jahr Musk-Twitter

Debora Pape
27.10.2023

Wir blicken zurück auf ein turbulentes Twitter-, pardon, X-Jahr unter Elon Musks Führung. Falls du den Überblick über die vielen teilweise kuriosen Änderungen auf Twitter verloren hast: Hier bekommst du ihn.

Am 26. Oktober 2022 marschierte Elon Musk grinsend mit einem Waschbecken auf dem Arm ins Twitter-Hauptquartier in San Francisco. «Let that sink in» postete er zu dem Video auf seinem Twitter-Account – eine Redewendung, auf Deutsch: «Lasst das mal sacken». «Sink» ist im Englischen aber eben auch ein Waschbecken. Zum Sackenlassen gab es einigen Anlass: Nach langem Gerangel stand der Twitter-Kauf kurz vor dem Abschluss.

Einen Tag später, heute vor einem Jahr, waren die Verträge perfekt. Elon Musk war um den Kurznachrichtendienst Twitter reicher und sein Konto um 44 Milliarden US-Dollar ärmer. Umgerechnet sind das circa 39 Milliarden Franken oder 42 Milliarden Euro. Und dann ging es umgehend los mit einem Schlingerkurs, der bis heute anhält: Musk kündigte teilweise Änderungen an, setzte sie aber nicht um. Neue Änderungen kamen überraschend, wurden aber zurückgenommen. Anderes blieb – im Gegensatz zum größten Teil der Belegschaft.

Die Wochen nach dem Kauf: Tausende Entlassungen

Unmittelbar nach dem Kauf feuerte Musk zunächst mehrere hochrangige Manager, darunter den bisherigen Geschäftsführer Parag Agrawal. Tausende weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten bald darauf ihre Siebensachen packen.

Wer nicht gefeuert wurde, musste sich auf harte Zeiten einstellen: Musk erwartete von der Belegschaft extrem hohen Einsatz. Das bedeutete: Überstunden bis in die Nacht. Das Foto einer Mitarbeiterin, die in einem Schlafsack auf dem Boden im Büro schlief, ging viral. Viele Mitarbeiter waren mit den Arbeitsbedingungen nicht einverstanden und gingen freiwillig. Twitter verlor in den ersten Wochen nach der Übernahme etwa 80 Prozent der gesamten Belegschaft, wie Elon Musk in einem Interview mit der BBC bestätigte.

Viele der entlassenen Mitarbeiter gehörten dem Content-Moderationsteam an. Musk hatte sich zuvor immer wieder über die Content-Moderation beschwert: Tweets, die gegen die Regeln der Plattform verstoßen, etwa Falschmeldungen und Hassnachrichten, wurden gelöscht und die entsprechenden Accounts häufig gebannt. Musk sah darin die Redefreiheit eingeschränkt. Nach diesen Entlassungen reagierte Twitter deutlich langsamer oder gar nicht mehr auf gemeldete Tweets.

Bei den Entlassungen ging es nicht nur um die ungeliebte Content-Moderation, sondern auch um viel Geld. Twitter war schon zur Übernahme durch Musk hoch verschuldet und verbrannte nach dessen Angaben vier Millionen US-Dollar (circa 3,5 Millionen Franken oder 3,8 Millionen Euro) am Tag.

Seit November 2022: Miete zahlen ist überbewertet

Anfang 2023 wurde bekannt, dass Twitter sich nach der Übernahme geweigert hatte, Mieten für Büroräumlichkeiten zu zahlen. Bis Mitte 2023 verklagten mehrere Vermieter die Plattform wegen nicht gezahlter Mieten in San Francisco, London, New York City, Boston und Seattle. Auch hier geht es um Millionenbeträge. Wie genau Elon Musk sich aus den Verträgen herausargumentieren will, ist mir nicht bekannt. Mitte 2023 soll er im Gespräch mit einem Investor gesagt haben, er werde «nur über seine Leiche» für die Büromieten bezahlen.

Dennoch wurden mittlerweile offenbar einige Klagen fallengelassen, weil Twitter seine Schulden bezahlt habe.

November 2022: Die Affäre mit dem blauen Haken

Ein blauer Haken neben dem Namen war bis zur Übernahme durch Musk ein Statussymbol: Nur verifizierte Personen mit einer gewissen Bekanntheit bekamen ihn. So konnten sich die User sicher sein, dass diese Personen die waren, die sie vorgaben zu sein.

Doch Musk war das ein Dorn im Auge. Er wollte das «Zwei-Klassen-System» abschaffen und einen blauen Haken für jeden anbieten – ohne Identitätsverifizierung und gegen eine saftige Zahlung von rund 20 US-Dollar (ca. 18 Franken oder 19 Euro) pro Monat. Nach einem öffentlichen Schlagabtausch mit Stephen King, dem bekannten Horror-Autor, setzte Musk den Preis auf rund 8 US-Dollar (ca. 7 Franken oder 7,5 Euro) herunter. Statt der Legitimierung sollte der blaue Haken nun Abonnenten von «Twitter Blue» hervorheben. Das ist das Twitter-Premium-Abonnement, das einige Extras beinhaltet.

Als das neue System bald darauf eingeführt wurde, verloren auf einen Schlag die meisten verifizierten Accounts ihren Haken. Gleichzeitig war es für jedermann möglich, sich einen Haken zu kaufen. Es kam, wie es kommen musste: Elon Musks Identität wurde gekapert. Zahlreiche Accounts benannten sich in «Elon Musk» um, verwendeten sein Profilbild und verliehen ihrem Account mit einem blauen Haken einen offiziellen Look. Und nutzten das mit teilweise lustigen Tweets voll aus. Musk sah sich genötigt, viele Accounts zu bannen.

Für Trolle standen aber zunächst Tür und Tor weit offen. Die Folge waren nicht nur Chaos und Verwirrung, sondern kurzzeitig auch Milliardenverluste an der Börse: Ein unbekannter Account tweetete unter falscher Identität des großen Pharmaunternehmens «Eli Lilly and Company», dass Insulin zukünftig kostenlos verfügbar sei. Der Aktienkurs des Unternehmens ging in den Keller und es zog sich als Werbepartner von der Plattform zurück.

Stephen King behielt übrigens seinen blauen Haken – obwohl er ihn weder wollte noch dafür bezahlte. Elon Musk ist offenbar ein Fan des Autors.

November 2022: Amnesie für viele gebannte Accounts

Der prominenteste Account, der in der Vor-Musk-Ära wegen seiner Regelverstöße von der Plattform geworfen wurde, war Ex-Präsident Donald Trump. Am 19. November tweetete Musk eine Abstimmung auf Twitter und fragte, ob Trumps Account wiederhergestellt werden sollte. Jeder konnte sich beteiligen und am Ende stimmten über 15 Millionen Menschen ab – 51,8 Prozent der Stimmen setzten sich für Trump ein.

Und so wurde Trumps Account zusammen mit weiteren zuvor gebannten Accounts wiederhergestellt.

Ende 2022: Massenflucht zu Mastodon?

Die Übernahme von Musk, das Bekanntwerden der vielen Entlassungen und auch die Kontroverse über die Wiederherstellung von gebannten Accounts führten zu Twitter-Trends wie #RIPtwitter, #TwitterDown und #GoodByeTwitter. Nutzerinnen und Nutzer drückten darunter ihren Unmut aus.

Viele entschlossen sich, auf der Konkurrenzplattform Mastodon einen Account zu erstellen und auf Twitter einen Link dorthin zu posten. Mastodon verzeichnete allein in den ersten zehn Tagen nach der Twitter-Übernahme 500 000 neue Benutzerkonten – zeitweise konnten die Server dem Ansturm nicht standhalten.

Musk wurde das Gerede über den Konkurrenten auf seiner Plattform dann aber zu bunt und ließ kurzerhand alle Links zu bekannten Mastodon-Servern löschen. Freie Meinungsäußerung hat eben auch für Mr. Musk ihre Grenzen. Am Ende kamen die meisten Abtrünnigen aber doch wieder zurück zum blauen Vogel.

Dezember 2022: Soll er CEO bleiben?

Das unzufriedene Geraune über seinen Führungsstil war an Musk nicht vorbeigegangen. Also fragte er das Twitter-Volk in einer weiteren Abstimmung, ob er als CEO von Twitter zurücktreten solle. 17,5 Millionen Accounts stimmten ab, 57,5 Prozent wollten Musk loswerden. Musk akzeptierte das Ergebnis und übergab ein halbes Jahr später das CEO-Zepter an Linda Yaccarino. Das verringerte jedoch weder seine Präsenz auf der Plattform, noch seine Einmischung in geschäftliche Entscheidungen.

April 2023: Ärger über falsche Kennzeichnungen

Hierzulande wurde dieser Eklat weniger beachtet, aber in den USA wurde viel darüber diskutiert: Die ungewollte Kennzeichnung verschiedener Medien in den USA und weiteren Ländern als «staatsnahes Medium», später als «staatlich finanziertes Medium». Diese Kennzeichnung suggerierte, dass die Medien nicht unabhängig berichten, sondern staatlich vorgegebene Inhalte publizieren.

Die Sender protestierten und zogen sich teilweise aus Protest von Twitter zurück. Elon Musk persönlich schaltete sich ein, trollte an den Labels herum – er setzte sie etwa bei einem kanadischen Sender auf «69 Prozent staatlich finanziert» – und Ende April wurden die Kennzeichnungen bei westlichen, russischen und chinesischen Medien einfach ganz abgeschafft.

Juni 2023: Blocken oder nicht blocken ist hier die Frage

Am 8. Juni tweetete Musk, dass es nicht sinnvoll sei, andere Posts zu blockieren. Im August legte er nach: Es werde künftig nicht mehr möglich sein, andere Accounts zu blockieren. Zur Erklärung: Blockierte Accounts können nicht mehr mit dem blockierenden Account interagieren und auch dessen Tweets nicht lesen oder darauf antworten.

Musk wollte stattdessen nur eine Form von «Mute» beibehalten: Wer einen Account mutet, sieht dessen Beiträge nicht mehr und kann auch nicht angeschrieben werden. Der gemutete Account kann aber trotzdem die Beiträge der anderen Person sehen und auch darauf antworten. Die Ankündigung, das Block-Feature zu streichen, sorgte für großen Unmut. Umgesetzt wurde sie bisher aber noch nicht.

Juli 2023: Aus Twitter wird X

Twitter ist tot, es lebe X. Ende Juli wurde der blaue Vogel auf weißem Grund im Logo durch ein weißes X auf schwarzem Grund ersetzt. Elon Musk äußerte sich zu der Umbenennung: Er will aus dem Nachrichtendienst eine umfassende «App für alles» machen. Dazu würde der alte Name nicht mehr passen. Was nun aus dem eingebürgerten Verb «tweeten» und dem «Tweet» selbst wird, ließ er offen.

Auch viele Twitter-User haben ihre Gedanken zur Umbenennung «ge-X-t». Ein Nutzer postete ein Bild mehrerer Logos von verschiedenen Pornoseiten: ein X neben dem anderen. Ein anderer meinte, das X stehe bei Software-Anwendungen meistens für «Programm schließen». Ob sich das X in der Wahrnehmung der Menschen wirklich durchsetzen wird, wird sich erst noch zeigen.

Oktober 2023: Verlinkte Websites ohne Vorschau

Bereits im August hatte Musk angekündigt, dass in Tweets verlinkte Websites «aus ästhetischen Gründen» bald ohne Titel und Textauszug angezeigt werden sollen. Mittlerweile wurde die Änderung umgesetzt. Von einer verlinkten Seite ist nur noch das Bild zu sehen. Unten links im Bild befindet sich sehr klein der Domänenname der verlinkten Seite.

Damit ist ein Link kaum von einem geposteten Bild zu unterscheiden. Musk hatte sich wohl darüber geärgert, dass Links zu anderen Websites und somit weg von X führen. Er hielt deswegen Journalisten und Medienschaffende dazu an, ihre Texte doch direkt auf Twitter zu posten – natürlich mit einem Twitter-Blue-Abo (mittlerweile «X Premium»).

Bald: Bezahlen, um zu posten?

Nach X Premium experimentiert X mit weiteren Bezahlmodellen. Möglicherweise können Gratisnutzerinnen und -nutzer X bald nur noch passiv nutzen. Wer selbst Beiträge oder Antworten posten möchte, der könnte eine jährliche Gebühr von einem US-Dollar bezahlen müssen. Tests dazu laufen derzeit auf den Philippinen und in Neuseeland.

Der Betrag ist so niedrig, dass es X dabei vielleicht tatsächlich um Bot-Bekämpfung geht, wie Musk immer wieder angekündigt hatte. Die Nutzung der Plattform durch Bots, also Accounts, hinter denen gar kein Mensch steht, ist für ihn ein großes Ärgernis.

Ob eine solche Gebühr auch in Europa fällig werden könnte, ist aktuell noch unklar.

Wie geht es weiter?

Mittlerweile gibt es Studien, die eine Zunahme von Falschinformationen, Hass und Rassismus auf Twitter/X belegen. Einige davon stellt ein BBC-Artikel zusammen. Musk selbst sieht keinen Anstieg von Hass auf seiner Plattform.

Letzte Woche machte ein Gerücht über einen X-Rückzug aus der EU mit ihren schärferen Gesetzen zur Inhaltsüberwachung die Runde. Musk dementierte aber sofort. Neben den hier genannten Änderungen gab es auch Optimierungen, die nicht so negativ aufgefasst wurden. So ist seit bald einem Jahr erkennbar, wie oft ein Tweet gesehen wurde, große Accounts können an Werbeeinnahmen beteiligt werden und seit gestern können Premium-Kunden auch Audio- und Videoanrufe über X tätigen.

Fest steht: Twitter/X ist weiter im Umbruch. Die Werbeeinnahmen sind laut Musk selbst stark eingebrochen und X Premium spült nicht wie erwartet viel Geld in die klamme Kasse. Die aktuellen Nutzerzahlen gibt X nicht regelmäßig bekannt. Rechnerisch zeigt sich aus Angaben von Musk und Geschäftsführerin Yaccarino, dass aktuell offenbar täglich 12 Millionen weniger Accounts auf X aktiv seien als noch zum Zeitpunkt der Übernahme (257,6 Millionen tägliche aktive Accounts). Prognosen gehen davon aus, dass X weiterhin Nutzer verlieren wird.

Allerdings konnten Alternativdienste wie Mastodon oder Bluesky bisher nicht die kritische Masse an Usern erreichen, um als echter Nachfolger zu gelten.

Was hältst du von Musks Änderungen auf Twitter? Nutzt du X (noch)? Tweete mir deine Meinung gern in die Kommentare.

Titelbild: Worawee Meepian/Shutterstock

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Fühlt sich vor dem Gaming-PC genauso zu Hause wie in der Hängematte im Garten. Mag unter anderem das römische Kaiserreich, Containerschiffe und Science-Fiction-Bücher. Spürt vor allem News aus dem IT-Bereich und Smart Things auf.


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