Hintergrund

Telegrafie – das Internet des 19. Jahrhunderts

David Lee
27.5.2025

Per Telegrafie konnten bereits vor über 150 Jahren Nachrichten und Bilder übertragen werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen die Fotoübertragung und drahtlose Übermittlung hinzu. Die weltweite Datenvernetzung ist gar nicht so neu.

Die Vernetzung der Welt geschah nicht erst mit dem Internet. Zuvor gab es das Telefonnetz, das auch für die Datenübertragung genutzt werden konnte, etwa durch Faxgeräte. Aber auch das Telefonnetz war nicht das erste weltweite Kommunikationsnetz. Bereits im 19. Jahrhundert wurde ein weltweites Netz gebaut – das Telegrafennetz.

Die Telegrafie hat die Welt ähnlich stark verändert wie das Internet. Denn vor der Telegrafie gab es keine Möglichkeit, Nachrichten über weite Strecken schnell zu übermitteln. Die Menschen waren dazu auf die Briefpost angewiesen. Mit der Verlegung eines Unterseekabels durch den Atlantik verringerte sich die Übermittlungszeit von Nachrichten drastisch – von mehreren Wochen auf ein paar Stunden. Für den Journalismus, aber auch für politische und wirtschaftliche Entscheidungen war die Telegrafie von Beginn an sehr wichtig.

Vor der Telegrafie war der Pony Express die schnellste Verbindung quer durch Amerika. Briefe benötigten damit mindestens zehn Tage.
Vor der Telegrafie war der Pony Express die schnellste Verbindung quer durch Amerika. Briefe benötigten damit mindestens zehn Tage.
Quelle: George M. Ottinger, 1867

Mit Telegrafie meine ich in diesem Beitrag übrigens immer elektrische Telegrafie. Andere Formen der Telegrafie kannte die Menschheit schon lange: Nachrichten können mit codierten Lichtsignalen oder akustisch mit Trommeln übertragen werden. Die Reichweite solcher Methoden ist allerdings vergleichsweise bescheiden.

Wie funktioniert Telegrafie?

Telegrafie basiert darauf, dass sich Elektrizität in einem Draht fortbewegt. Am einen Ende der Leitung befindet sich ein Eingabegerät, am anderen ein Empfangsgerät. Das Eingabegerät in seiner ursprünglichen Form ist maximal simpel: Es besteht aus einer Taste. Durch Drücken wird der Stromkreis geschlossen und Strom durch die Leitung geschickt. Beim Loslassen der Taste erhebt sie sich und unterbricht damit den Stromkreis.

Eine alte Morsetaste.
Eine alte Morsetaste.
Quelle: Shutterstock

Ähnlich wie bei Klopfzeichen lässt sich durch die Abfolge von Signal und Signalpause ein Code erzeugen und so kann Information übermittelt werden. Dafür etablierte sich als Standard der Morse-Code. Er besteht aus kurzen Signalen, notiert als Punkt, langen Signalen, notiert als Strich, und Pausen. Mit dem Morse-Alphabet lassen sich Buchstaben, Zahlen und Sonderzeichen in elektrische Signale codieren und anschliessend wieder decodieren.

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Am anderen Ende der Leitung befindet sich ein Stift, der diese Signale als Ausschläge auf einen laufenden Papierstreifen zeichnet – ein sogenannter Schreibtelegraf. Später konnten diese Signale auch in ein Piepsignal umgewandelt werden. Für einen geübten Telegrafisten war dies einfacher, da er in der Lage war, den Morsecode schon beim Hören zu übersetzen und die Nachricht aufzuschreiben.

Die Anfänge des Telegrafennetzes

Die physikalischen Grundlagen zur elektrischen Telegrafie waren der Wissenschaft bereits Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt. Zahlreiche Tüftler experimentierten mit elektrischer Signalübertragung, aber es gab kein einheitliches Verfahren und der praktische Nutzen war noch nicht offensichtlich. Die Leitungen waren kurz. Eine Leitung in Göttingen zwischen den Arbeitsplätzen von Mathematiker Carl Friedrich Gauß und dem Physiker Wilhelm Eduard Weber war einen Kilometer lang. Das war bereits viel.

Der Amerikaner Samuel Morse stellte 1837 der Öffentlichkeit seinen ersten Schreibtelegrafen vor. Damals noch mit einem viel komplizierteren Codiersystem als dem später gebräuchlichen Morsecode. Dieser wurde in den folgenden Jahren von seinem Mitarbeiter Alfred Vail entwickelt. Auch sonst wurde die Technik verbessert. Morse versuchte lange Zeit erfolglos, eine staatliche oder private Finanzierung für den Bau einer Infrastruktur zu bekommen. 1844 nahm in den USA endlich die erste längere Telegrafenleitung zwischen Washington und Baltimore den Betrieb auf.

Auch in Europa gab es bereits Telegrafenleitungen, vor allem in England, wo der Ausbau von Eisenbahn und Telegrafie Hand in Hand ging. Doch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm der Ausbau so richtig Fahrt auf. Die Schweiz begann 1852 mit dem Bau eines Telegrafennetzes – etwas später als die Nachbarländer, dafür gründlicher. Ende Jahr waren 34 Stationen in Betrieb. Die folgende Karte zum Stand von 1855 vermittelt einen Eindruck davon, dass die Schweiz damals ein vergleichsweise dichtes Telegrafennetz hatte.

Da ging es erst richtig los: europäisches Telegrafennetz 1855.
Da ging es erst richtig los: europäisches Telegrafennetz 1855.
Quelle: uni-augsburg.de

Die Leitungen wurden gerne entlang der Eisenbahnstrecken verlegt. So konnten auch Informationen über die Züge übermittelt werden. Eine Zeitlang war für Räuber die Eisenbahn eine sichere Fluchtmethode, da nichts schneller war als ein fahrender Zug. Mit Telegrammen änderte sich das. An den Bahnhöfen war man bereits über die Kriminellen informiert und erwartete sie mit Handschellen.

Unterseekabel: ein Abenteuer

Leitungen unter Wasser waren eine besondere Herausforderung. 1850 wurde zwischen Frankreich und England das erste Seekabel verlegt. Trotz der kurzen Distanz hielt es nur wenige Stunden. Es fehlte an einem geeigneten, widerstandsfähigen Isoliermaterial.

1857 startete die private Firma Atlantic Telegraph Company den Versuch, ein Unterseekabel durch den Atlantik zu verlegen. Die Schwierigkeiten, mit denen die Pioniere zu kämpfen hatten, waren enorm. Es begann damit, dass das Kabel für 4600 Kilometer nicht auf ein einzelnes Schiff geladen werden konnte. Man fuhr mit zwei Schiffen in die Mitte des Atlantiks, setzte dort die Kabelenden zusammen und verlegte die Leitung in zwei Richtungen gleichzeitig. Doch das Kabel riss bereits beim Verlegen mehrfach. Die Schiffe gerieten in einen Sturm, der Kompass funktionierte nicht richtig, vermutlich wegen der Kabelladung. Als nach drei Versuchen und über einem Jahr die Leitung endlich stand, herrschte auf beiden Seiten des Atlantiks grosse Begeisterung.

Allerdings nicht sehr lange, denn auch dieses Kabel ging schnell kaputt. Schon nach einigen Tagen wurden die Signale schwächer. Man beschloss, dem mit einer erhöhten Spannung von 2000 Volt entgegenzuwirken, was das Kabel endgültig zerstörte. Es folgte eine längere Pause, unter anderem wegen des Sezessionskriegs. Erst 1865 wurde der nächste Versuch gestartet. Er ging schief. 1866, im fünften Versuch, war endlich ein dauerhaft funktionierendes Unterseekabel etabliert.

H.M.S. Agamemnon 1858 beim Verlegen von Unterseekabel, Gemälde von Robert Charles Dudley, 1866
H.M.S. Agamemnon 1858 beim Verlegen von Unterseekabel, Gemälde von Robert Charles Dudley, 1866

Die Welt wird vernetzt

Mit diesem Atlantikkabel war der Beweis endgültig erbracht, dass sich ein weltumspannendes Telegrafennetz bauen lässt. 1865 nahm die sogenannte Türkenlinie den Betrieb auf, die von London bis nach Indien führte. Im selben Jahr wurde die Internationale Fernmeldeunion gegründet, um die länderübergreifende Telegrafie zu koordinieren. Die Organisation hat bis heute ihren Sitz in Genf. 1875 wurden in der Schweiz drei Millionen Telegramme verschickt, eine Million davon international. Um die Jahrhundertwende war die Vernetzung schon weit fortgeschritten.

Telegrafie-Weltkarte der Kartographischen Anstalt Bern LIPS von 1903.
Telegrafie-Weltkarte der Kartographischen Anstalt Bern LIPS von 1903.
Quelle: NBL Map Center Boston Public Library

Diese Karte vom Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt, wie viele Unterseeverbindungen es bereits gab. Selbst kleine Inseln mitten im Ozean waren erschlossen. Es gab sogar eine Verbindung durch den Pazifik von Australien nach Vancouver.

Das Netz bedeutete jedoch nicht, dass jeder Punkt auf der Welt direkt angeschrieben werden konnte, so wie wir das vom Internet kennen. Ein Telegramm von Europa nach Australien fand seinen Weg über Zwischenstationen, in denen es entschlüsselt und neu versendet werden musste. Insgesamt konnte dies mehrere Tage dauern. Ein Meilenstein für die Menschheit war es trotzdem. Schliesslich gab es noch keine Flugzeuge und die Übermittlung von Nachrichten um die halbe Welt hätte ohne die Technik mindestens zwei Monate gedauert.

Auch konnte zu Beginn nur eine Nachricht gleichzeitig durch eine Leitung geschickt werden, später dank des Multiplex-Verfahrens ein paar wenige. So gelangten viele Nachrichten über Umwege ans Ziel, weil die direkte Route belegt war. Die beschränkte Kapazität und das manuelle Weiterleiten machten Telegramme sehr teuer. Gewöhnliche Menschen nutzten sie nur in besonders dringenden oder wichtigen Ausnahmefällen.

Bildtelegrafie

Das Telegrafennetz diente auch zur Übertragung von Bildern. Bereits 1855 liess der italienische Physiker Giovanni Caselli ein Gerät patentieren, das er Pantelegraph nannte. Es konnte einfache Bilder bis zu einer Grösse von 10x15 cm übertragen. Benutzt wurde es ab 1860 hauptsächlich in Frankreich, unter anderem zur Prüfung von Unterschriften bei Bankgeschäften.

Die Bilder mussten mit Tinte auf eine Zinkfolie gezeichnet werden. Zink ist elektrisch leitfähig, Tinte nicht. Eine Maschine tastete die Folie ab. Erkannte sie Zink, sendete sie ein Stromsignal, ansonsten nicht. So übermittelte sie ein Negativ zum Empfänger.

Mit der Erfindung von Arthur Korn konnten nicht nur Zeichnungen, sondern auch Fotos übertragen werden. Statt einer Zinkplatte wurde ein normaler Filmstreifen verwendet. Mit Hilfe einer Selenzelle, die ihren Widerstand je nach Lichteinfall ändert, tastete eine Maschine das Bild ab und wandelte es in elektrische Signale um. Nach einigen Jahren war die Bildqualität erstaunlich gut. Von 1907 stammt dieses Telegrafiefoto des letzten deutschen Kaisers, Wilhelm II. Die Erfindung wurde unter anderem zur Übermittlung von Fahndungsfotos eingesetzt.

Telegrafiertes Foto von Kaiser Franz Joseph, abgedruckt in «Das interessante Blatt», Januar 1907
Telegrafiertes Foto von Kaiser Franz Joseph, abgedruckt in «Das interessante Blatt», Januar 1907

Auch Édouard Belin entwickelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Bildtelegrafen. 1921 gelang die erste Fotoübermittlung über den Atlantik. Die Verfahren der Bildtelegrafie wurden ständig weiterentwickelt, wobei die Geräte im 20. Jahrhundert hauptsächlich das Telefonnetz verwendeten. Ab 1926 war es auch möglich, Bilder drahtlos per Rundfunk zu übermitteln – der sogenannte Fultograf war zwar ein Flop, er war aber gleichzeitig der Vorläufer von Fernsehen und Fax.

Bildtelegraf-Empfänger der DPA, um 1950.
Bildtelegraf-Empfänger der DPA, um 1950.
Quelle: Museumsstiftung Post und Telekommunikation / Joel Fischer

Drahtlose Telegrafie

1886 konnte Heinrich Hertz die Existenz von Radiowellen nachweisen. Dies bildete die Grundlage zur Entwicklung von Rundfunk und Funktelegrafie. 1897 gelang beim Bristolkanal die erste Übertragung über das offene Meer, über eine Distanz von knapp fünf Kilometern. Danach wurden schnell wesentlich grössere Distanzen erreicht. 1901 gelang Funkpionier Guglielmo Marconi die erste drahtlose Übermittlung über den Atlantik.

1897: Ingenieure der britischen Post inspizieren Marconis Anlage, mit der die erste drahtlose Übermittlung übers Meer gelang.
1897: Ingenieure der britischen Post inspizieren Marconis Anlage, mit der die erste drahtlose Übermittlung übers Meer gelang.
Quelle: Cardiff Council Flat Holm Project

Die Funktelegrafie war wichtig für die Schifffahrt. Schiffe konnten zuvor nicht mit der Aussenwelt kommunizieren, wenn sie in Seenot gerieten. 1906 wurde der Notruf «SOS» eingeführt. Die Buchstabenkombination bedeutete nichts Bestimmtes, sondern wurde gewählt, weil sie eine besonders einfache Morsezeichenabfolge hatte: Dreimal Punkt, dreimal Strich, dreimal Punkt.

Die Titanic, die 1912 einen Eisberg rammte und sank, konnte andere Schiffe per Funktelegrafie verständigen. Nur dadurch überlebte ein Teil der Passagiere.

Tontelegrafie (besser bekannt als Telefon)

Die Erfindung des Telefons war nichts anderes als der Versuch, eine weitere Art von Information über das elektrische Netz zu übertragen. Mich erstaunt es nicht sonderlich, dass das Telefon von mehreren Personen unabhängig voneinander erfunden wurde – die Idee war naheliegend. Bekanntlich reichten Alexander Graham Bell und Elisha Gray Patentanträge zum Telefon am selben Tag ein, am 14. Februar 1876. Telefonähnliche Geräte wurden aber schon zuvor von diversen Erfindern entwickelt: ab 1844 von Innocenzo Manzetti, und ab etwa 1860 von Antonio Meucci und Philipp Reis. Der deutsche Erfinder nannte sein Gerät auch schon «Telephon».

Das Telegrafennetz diente den ersten Gehversuchen der Telefonie, war fürs Telefon aber nur bedingt geeignet. Telefonie braucht eine höhere Übertragungsqualität und so begann der Ausbau des Telefonnetzes vor allem lokal, über kurze Strecken.

Das allmähliche Ende

Mit der Erfindung der Telefonie war die Telegrafie keineswegs überflüssig geworden. Lange Zeit existierten die beiden Kommunikationsformen parallel. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war selbst in hoch entwickelten Ländern erst eine Minderheit der Haushalte ans Telefonnetz angeschlossen. Dies änderte sich in der zweiten Hälfte. Das Telegramm verlor an Bedeutung, wurde aber für besondere Anlässe weiterhin genutzt. 1978 zählte die Post der Bundesrepublik Deutschland immerhin noch 13 Millionen versendete Telegramme.

In der Schweiz wurde der Staatsbetrieb PTT – Abkürzung für Post, Telefon, Telegraf – 1998 in Post und Swisscom aufgeteilt. Der praktisch bedeutungslos gewordene Telegrammdienst wurde im Zuge dieser Aufteilung 1999 eingestellt. In Deutschland konnten noch bis Ende 2022 Telegramme verschickt werden, allerdings nur innerhalb des Landes.

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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