«Avatar»: Netflix streicht Sokkas Sexismus – und begeht damit einen schweren Fehler
Meinung

«Avatar»: Netflix streicht Sokkas Sexismus – und begeht damit einen schweren Fehler

Luca Fontana
1.2.2024

Sokka ist zwar nicht der Hauptcharakter von «Avatar: The Last Airbender», aber trotzdem einer der beliebtesten Charaktere. Nun streicht ihm Netflix wohl eine seiner wichtigsten, «fragwürdigsten» Charakterentwicklungen – zu Unrecht.

Zwei Jahre lang haben die «Avatar: The Last Airbender»-Schöpfer Bryan Konietzko und Michael Dante DiMartino an einer Live-Action-Adaption des Zeichentrick-Klassikers für Netflix gearbeitet. Dann das grosse Beben. Konietzko und DiMartino verlassen das Projekt. «Zu viele kreative Differenzen», sagen sie. Und: «Egal welche Version am Ende erscheint, es wird nicht das sein, was Bryan und ich uns vorgestellt haben.»

Es ist August 2020.

Heute, dreieinhalb Jahre später, erklärt Sokka-Darsteller Ian Ousley im Interview mit Entertainment Weekly, dass sich Netflix’ Adaption greifbarer als die Zeichentrickserie anfühlen soll. Bodenständiger. Sein Charakter etwa soll zwar seinen ulkigen Humor behalten – aber dafür nicht mehr sexistisch sein. «Ich glaube, dass es in der ursprünglichen Serie viele fragwürdige Momente gab», pflichtet ihm Katara-Darstellerin Kiawentiio Tarbell im Interview bei.

Fans sind ausser sich. Zu Recht, finde ich.

Netflix-Adaption ohne die Macher des Originals: Kann das gut gehen?

Eines vorweg: Mir ist durchaus bewusst, dass ich über eine Serie schreibe, die noch gar nicht erschienen ist. Das mag unfair sein. Diese Zeilen sollen daher nicht als Serien-Kritik verstanden werden, sondern als Ausdruck meiner Besorgnis. Schliesslich begleitete mich die Nickelodeon-Zeichentrickserie jahrelang. Gerade in meiner frühen Jugend, als «Avatar: The Last Airbender» im Jahr 2005 zum ersten Mal auf Nickelodeon ins Fernsehen kam.

Und jetzt, da am 22. Februar die Live-Action-Adaption auf Netflix erscheint, habe ich gerade erst das Original auf Paramount+ erneut durchgeschaut. Was soll ich sagen? Die Zeichentrickserie ist sogar besser, als ich sie in Erinnerung hatte. Vor allem witziger. Aber auch tiefgründiger und bewegender. Keine Episode ist einfach nur zum Spass da. Alle haben einen tieferen Sinn. Eine Lektion, die Avatar Aang und seine Freunde auf ihrer Reise lernen müssen, ehe sie die unterjochte Welt von der Feuernation befreien können.

Mehr als nur ein bisschen mulmig ist mir deshalb schon dabei, wenn sich die Macher genau jenes Meisterwerks so sehr mit Netflix überworfen haben, dass sie das Projekt nach zwei Jahren Zusammenarbeit freiwillig verliessen. Sicher, wenn eine Zeichentrickserie mit realen Menschen adaptiert wird, geht das nicht ohne Änderungen und Umstellungen. Ich verlange ja auch keine 1:1-Adaption. Aber wenigstens, dass der Geist der Serie respektvoll eingefangen wird. Vor allem der unübertroffene Mix aus alberner Komik, bedeutsamen Lebensweisheiten und nuancierten Charakterzeichnungen.

Eine davon gehört Sokka.

Sokka ein Sexist? Anfangs, ja, aber dann …

Es stimmt schon: Sokka ist kein Element-Bändiger, aber ein stolzer Krieger des südlichen Wasserstamms. In seiner Weltanschauung ziehen Männer in den Krieg, während Frauen zu Hause auf sie warten. Damit ist er nicht alleine: Auch im nördlichen Wasserstamm, am anderen Ende der Welt, werden nur Männer zu Kriegern ausgebildet, während Frauen sich in der Heilkunst vertiefen. Jemand muss ja die verletzten Männer, die aus dem Kampf zurückkehren, wieder gesund pflegen.

Dass die Zeichentrickserie genau dieses Weltbild nicht gutheisst, wird in ihrem Verlauf immer wieder deutlich – lange bevor es mehr politisch als ehrlich motiviert war, sich Antisexismus oder sonstige progressive Botschaften auf die Fahne zu schreiben. Etwa in der ersten Staffel, als Hauptcharakter Aang zusammen mit seinen Freunden den unerschütterlichen Kyoshi-Kriegerinnen des Erdreichs begegnet. Sokka macht sich zuerst über die Kriegerinnen lustig, weil er meint, Frauen hätten keine Chance gegen ihn. Zum Sparring herausgefordert, wird er prompt auf die Matte gelegt. Schliesslich schluckt er seinen falschen Stolz herunter, entschuldigt sich und bittet die Kriegerinnen demütig, ihn zu unterweisen.

Ein wichtiger Moment in Sokkas Charakterentwicklung. Das zeigt schon diese eine fünfminütige Szene da oben. Kennst du die ganze Serie, wird’s aber noch deutlicher: Sokka kann keine Elemente bändigen. Als stolzer Krieger kratzt das in einer Welt, in der es möglich ist, Wasser, Feuer, Luft und Erde zu bändigen und damit unglaubliche Dinge zu vollbringen, an seinem Selbstwert.

Während den ersten paar Episoden wird darum schnell klar, dass seine sexistischen Aussagen Frauen gegenüber mehr ein Ventil sind, seine Eifersucht und gefühlte Minderwertigkeit zu verbergen, keine böse gemeinten Erniedrigungen. Denn Aang ist der legendäre Avatar, der alle Elemente beherrscht. Sokkas Schwester Katara eine furchtlose Wasserbändigerin, die ihm immer wieder aus der Patsche helfen muss. Sokka hingegen ist anfangs nicht mal ein besonders geschickter Krieger, wenn er ganz ehrlich mit sich selbst ist. Welchen Wert kann er da schon der Gruppe bringen?

Dann die Begegnung mit den Kyoshi-Kriegerinnen. Nicht nur sind sie Frauen. Sie behaupten sich sogar gegen die böse Feuernation – und das, obwohl sie selbst auch keine Elemente bändigen. Zum ersten Mal muss Sokka sein Weltbild ernsthaft hinterfragen. Nicht nur, weil er endlich realisiert, dass auch Menschen ohne Bändigungskräfte wertvoll im Kampf sind. Es sind ausgerechnet Krieger-Frauen, die ihm diese Lektion erteilen. Sokka legt seinen Sexismus fortan beiseite und wird später beim nördlichen Wasserstamm sogar den dortigen Brauch, nur Männer zu Kriegern auszubilden, vehement anfechten.

Der Wegfall des Sexismus ist ein Verlust für die Serie

Selten habe ich im Fernsehen das Thema Sexismus so unmoralisch und trotzdem mit der angemessenen Tiefe umgesetzt gesehen wie in «Avatar: The Last Airbender». Zu keinem Zeitpunkt fühlen wir Zuschauende uns belehrt, und trotzdem lernen wir. Auch, weil es nie darum geht, eine klare Gewinnerin oder einen klaren Gewinner zu küren. Am Ende siegt stets die Gleichstellung. Das sich auf Augenhöhe begegnen – mit gegenseitigem Respekt.

Dass man bei Netflix Sokkas anfänglichen Seximsus gestrichen hat, weil er «fragwürdig» sei, zeigt mir, dass die Macherinnen und Macher rein gar nichts verstanden haben. Schlimmer: Sie berauben einen wichtigen und beliebten Charakter einer seiner wichtigsten Charakterentwicklungen. Vielleicht sogar die schwierigste von allen. Stolz und Eifersucht sind noch heute tabuisierte Gefühle, für die wir uns schämen. Mehr als für Furcht, Zorn oder Unsicherheit. Sokka stellt sich diesen schwierigen Gefühlen – und besiegt sie. Aber genau das wird ihm jetzt genommen.

Warum ist es laut Katara-Darstellerin Kiawentiio «fragwürdig», wenn Sokka seinen Sexismus überwindet?
Warum ist es laut Katara-Darstellerin Kiawentiio «fragwürdig», wenn Sokka seinen Sexismus überwindet?
Quelle: Nickelodeon

Nun denn, die Live-Action-Adaption von «Avatar: The Last Airbender» kommt am 22. Februar auf Netflix. Spätestens dann werden wir sehen, ob Sokka bloss noch zum reinen Sprücheklopfer degradiert wurde, ohne Tiefe und Nuancen. Bis dahin bleibe ich besorgt.

Titelfoto: «Avatar: The Last Airbender» / Netflix

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder.Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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