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5 Jahre «Baldur’s Gate 3»: Warum das Game ein unwiederholbares Meisterwerk bleibt

«Baldur's Gate 3» ist das Resultat eines kosmischen Zufalls, bei dem Timing, Talent und Nostalgie zur perfekten Symbiose verschmolzen. Ein derartiges Meisterwerk werden wir vermutlich nie wieder erleben.

Es gibt diese Momente in der Popkultur, bei denen alles stimmt und etwas entsteht, das grösser ist als die Summe seiner Teile. Im Englischen spricht man von einem «Lightning in a Bottle» – einem Blitz im Glas. Ein flüchtiger Moment der Perfektion, der sich partout nicht reproduzieren lässt. Der erste Auftritt der Beatles in der Ed Sullivan Show war so einer oder der Cast von «The Dark Knight» mit Heath Ledgers Joker.

Und «Baldur's Gate 3»? Das ist der verdammte Zeus persönlich, der seine komplette Blitzsammlung in eine Champagnerflasche geballert hat. Am 6. Oktober 2020 startete das Spiel in den Early Access – fünf Jahre später reden wir immer noch darüber, als hätten wir kollektiv eine religiöse Erfahrung gemacht.

Was macht dieses Spiel so besonders?

1. Das Timing

Die ersten zwei Teile von «Baldur's Gate» gehören bis heute zu den besten Games überhaupt. 1998 läutete Teil 1 die Renaissance des RPG-Genres ein und das Sequel legte nur zwei Jahre später nach und machte alles grösser, imposanter und epischer. Eine ganze Generation von Gamern ist mit diesen Spielen aufgewachsen und hat seitdem auf eine würdige Fortsetzung gewartet.

Wie alles begann.
Wie alles begann.
Quelle: Rainer Etzweiler

Als Larian Studios 2023 endlich «Baldur's Gate 3» veröffentlichte, hätte der Zeitpunkt kaum besser sein können. Dungeons & Dragons, die Lizenz, auf der die Welt des Spiels und dessen Regelwerk basiert, erlebte gerade seine absolute Blütezeit.

Dank «Stranger Things» wussten plötzlich auch Normies, was ein D20 ist und «Critical Role» hat aus dem Nerd-Hobby ein Mainstream-Phänomen gemacht. Matt Mercer und seine Truppe verwandeln regelmässig Pen-and-Paper-Sessions in Entertainment-Gold, das Millionen vor die Bildschirme lockt. Plötzlich war das Hobby, für das man vor wenigen Jahren noch auf dem Pausenplatz vermöbelt wurde, trendy geworden.

«Baldur's Gate 3» kanalisiert das Gefühl einer echten D&D-Session so perfekt, dass man fast den Geruch von kalter Pizza und abgestandenem Cola wahrnehmen kann. Die Würfelmechaniken, die Freiheit der Problemlösung, die Konsequenzen deiner Entscheidungen – alles fühlt sich an wie am Tisch mit Freunden, nur mit besserer Grafik und weniger Diskussionen über Regelauslegungen.

2. Das Studio der Stunde

Entwickler Larian war die perfekte Wahl für das Projekt. Die Belgier veröffentlichten 2002 ihr erstes RPG «Divine Divinity». Dieses war qualitativ noch weit vom heutigen Output entfernt, legte aber den Grundstein für einen konsequenten Aufstieg zum derzeit besten westlichen RPG-Studio überhaupt.

«Divinity Original Sin 2» ist ein Pflichttitel für alle mit «Baldurs’s Gate 3»-Entzugserscheinungen
«Divinity Original Sin 2» ist ein Pflichttitel für alle mit «Baldurs’s Gate 3»-Entzugserscheinungen
Quelle: Larian Studios

«Divinity Original Sin» (2014) und «Divinity Original Sin II» (2017) präsentieren sich als Kumulation von all dem, was Larian an Erfahrung angesammelt hat. Die zwei Games wirken im Nachhinein wie Bewerbungsschreiben für den Entwicklungs-Job von «Baldur’s Gate 3».

3. Der Mut zur Geduld

Jahrzehntelange Erfahrung trifft auf kreative Freiheit – eine Kombination, die in der heutigen Gaming-Landschaft seltener ist als ein Bug-freier Launch von Bethesda. Wobei auch das nicht dem Zufall überlassen wurde: «Baldur’s Gate 3» liess sich viel Zeit im Early Access. Ganze drei Jahre.

Während andere Studios stolz ihre halbgaren Produkte servieren (hoi «Cyberpunk 2077»), nutzte Larian die Community als riesiges Testlabor, um vor dem Release so viele Mängel wie möglich auszubügeln. Dies führte dazu, dass das Spiel trotz der schier unendlichen Interaktionsmöglichkeiten einigermassen fehlerfrei in den Handel kam.

«Cyberpunk 2077» erschien in einem katastrophalen Zustand.
«Cyberpunk 2077» erschien in einem katastrophalen Zustand.
Quelle: CD Project Red

«Ein verspätetes Spiel ist letztendlich gut, aber ein überstürztes Spiel ist für immer schlecht», lautet ein vielzitiertes Zitat, das fälschlicherweise dem Mario-Erfinder Shigeru Miyamoto zugewiesen wird. Larian hat sich diesen Spruch offenbar nicht nur zu Herzen genommen, sondern gleich auf die Brust tätowiert.

«Baldur's Gate 3» lieferte damit auch den perfekten Gegenentwurf zu den vielen enttäuschenden AAA-Releases der letzten Jahre. Keine Mikrotransaktionen, kein Day-One-DLC-Bullshit, einfach ein komplettes, funktionierendes Spiel.

4. Die Charaktere

In einem Rollenspiel ist die Story zentral und «Baldur’s Gate 3» liefert ein spektakuläres Epos. Ich behaupte allerdings, dass die Geschichten, die meine Party-Freunde mitbringen, um ein Vielfaches unterhaltsamer und besser sind als der Mainplot des Spiels.

Freunde fürs Leben.
Freunde fürs Leben.
Quelle: Larian Studios

Die Charaktere sind derart gut geschrieben, dass selbst der grummeligste Kritiker schwach wird. Die Emo-Elfin Shadowheart bleibt bis zum Schluss ein glaubwürdiger Komplex-Haufen. Astarion ist das liebenswerteste Arschloch seit Futuramas Bender. Und wenn irgendwann der seidene Faden, an dem meine Heterosexualität hängt, reisst, dann ist wahrscheinlich die wandelnde Red Flag Gale daran schuld.

Verknallt habe ich mich in jeden einzelnen dieser Chaoten – ein klares Symptom für parasoziale Beziehungen.

Intermezzo: Parasozialität für Anfänger: Die «BG3»-Edition

Parasozialität ist, wenn du nach 200 Spielstunden ernsthaft überlegst, ob dich Shadowheart an deine Ex erinnert, während du gleichzeitig Karlachs Geburtstag in deinen Teams-Kalender einträgst. Es ist der Moment, wenn du im echten Leben «Wyll würde das verstehen» murmelst, nachdem dein Chef dich mal wieder nervt, oder wenn du dich dabei ertappst, wie du Astarions Traumabewältigung mit deinem Therapeuten diskutieren willst.

<3
<3
Quelle: Larian Studios

Du weisst, dass diese virtuellen Figuren nicht real sind, aber dein Hirn hat nach der dritten Romance-Cutscene beschlossen, dass Gale definitiv dein bester Freund ist und du würdest für diesen magiesüchtigen Nerd in den Kampf ziehen.

Wenn Videospiel-Charaktere so gut geschrieben sind, dass sie echte emotionale Reaktionen auslösen und uns zum Nachdenken über unsere eigenen Beziehungen bringen, dann ist ein bisschen Parasozialität nicht nur verzeihlich – es ist ein Qualitätsmerkmal. Sorry not sorry, aber ich plane bereits meine nächste Therapiesitzung mit Halsin.

5. Die ultimative Freiheit

Während andere RPG-Franchises wie «Dragon Age» und «Final Fantasy» den Casualisierungs-Highway entlangrasen, entschied sich Larian für die Gegenrichtung: Vollgas in Richtung Komplexität.

«Baldur's Gate 3» ist ein unendlich tiefschürfendes RPG, das den Spielern sämtliche Freiheiten lässt. Du willst die Söldner aus dem Hinterhalt angreifen? Bitte sehr. Einen Bossgegner überreden, sich selbst umzubringen? Warum nicht. Jeden NPC ausrauben und trotzdem der Held sein? Dein moralischer Kompass, deine Regeln.

Nahezu jede Mission kann unterschiedlich angegangen werden. Der Fantasie und dem Entdeckergeist werden kaum Grenzen gesetzt. Stealth, Diplomatie, rohe Gewalt oder eine Kombination aus allem – das Spiel respektiert deine Kreativität und belohnt unkonventionelles Denken. Und das liefert das Futter für Grund Nummer 6.

6. Die Community und der Wiederspielwert

Monate und Jahre später diskutieren wir immer noch darüber, wie wir diese oder jene Quest angegangen sind. «Du hast WAS mit dem Goblin-Lager gemacht?» ist zum Running Gag geworden. Diese Art von organischem Community-Engagement kann man nicht kaufen, nicht erzwingen – es passiert einfach, wenn ein Spiel wirklich resoniert.

Ein Goblin-Camp, unendlich viele Lösungsansätze.
Ein Goblin-Camp, unendlich viele Lösungsansätze.
Quelle: Larian Studios

Damit einher geht auch ein Wiederspielwert, wie ihn nur ganz wenige Spiele vorweisen können. Jedes Mal, wenn ich eine Quest abgeschlossen oder einen Gegner umgenietet habe, frage ich mich zwangsläufig, ob es dafür nicht einen kreativeren, einen besseren Weg gegeben hätte.

Ich könnte «Baldur’s Gate 3» fünfmal durchspielen und hätte fünfmal ein komplett anderes Spielerlebnis.

Warum «Baldur’s Gate 4» einen schweren Stand hat

Larian hatte die Zeit und das Budget, um genau das Game zu machen, das sie wollten. Kein Publisher, der ihnen reinlabert und keine Aktieninhaber, die befriedigt werden müssen. Diese Art von kreativer Freiheit gibt es kaum noch ausserhalb der Indie-Szene – es sei denn, man heisst Hideo Kojima und hat einen Sugar Daddy namens Sony.

Die Lizenz und das Timing waren perfekt. Gefühlt spielen mehr Menschen Dungeons & Dragons als jemals zuvor. Aber Trends sind wie Wellen – sie brechen irgendwann. Der nächste Versuch wird möglicherweise zu früh oder zu spät kommen.

Diese magische Mischung aus Freiheit, Timing und Passion lässt sich nicht einfach reproduzieren – schon gar nicht, wenn die Rahmenbedingungen sich verschlechtern. Wizards of the Coast, der Lizenzinhaber von Dungeons & Dragons, ist offenbar kein besonders angenehmer Arbeitspartner. Larians Studioboss Swen Vincke machte kurz nach dem Ende der Kooperation im März 2024 seinem Ärger über die Gier in der Szene Luft, ohne den Verlag direkt zu nennen. Die Botschaft war trotzdem klar: Unter solchen Bedingungen hätte «Baldur's Gate 3» nie entstehen können. Und ein potenzieller vierter Teil würde genau unter diesen Bedingungen leiden.

Sven Vincke fragt sich, wie viel Alkohol er trinken müsste, um ein weiteres Mal mit Wizards of the Coast zusammenzuarbeiten.
Sven Vincke fragt sich, wie viel Alkohol er trinken müsste, um ein weiteres Mal mit Wizards of the Coast zusammenzuarbeiten.
Quelle: Larian Studios

Dieser muss sich zudem zwangsläufig an seinem Vorgänger messen und kann mutmasslich nur enttäuschen. Der Druck wirkt sich unweigerlich auf die Entwickler aus, und niemand arbeitet gut unter Druck. Kreativität braucht Raum zum Atmen, nicht die ständige Angst, das nächste «Mass Effect: Andromeda» zu produzieren.

Wer kommt für «Baldur’s Gate 4» in Frage?

Bei allem Pessimismus gibt es auch Grund zur Hoffnung. Larian ist längst nicht das einzige kompetente RPG-Studio. Für mich gibt es drei mögliche Kandidaten:

Obsidian Entertainment wäre die logische Wahl für den Nachfolger. Die haben mit «Pillars of Eternity» bewiesen, dass sie Old-School-RPGs verstehen und mit «The Outer Worlds» gezeigt, dass sie auch Humor können.

Owlcat Games wiederum ist mit «Pathfinder: Wrath of the Righteous» ein kleiner Sleeperhit gelungen, der in Sachen Komplexität beinahe mit «Baldur’s Gate 3» mithalten kann und das 2023 erschiene «Warhammer 40’000: Rogue Trader» wird von vielen Fans, als die beste Videospiel-Umsetzung der Games Workshop-Lizenz gehandelt.

CD Projekt Red verfügt über die Mittel und das Talent, um das Projekt aus dem Boden zu stampfen. Die Polen müssten aber erstmal beweisen, dass «Cyberpunk 2077» die Ausnahme und nicht die neue Regel war.

«Baldur's Gate 4» wird kommen, keine Frage. Aber es wird ein anderes Spiel sein, für eine andere Zeit. Und das ist wahrscheinlich auch okay. Denn wir haben unseren Moment bereits gehabt. Wir haben den Drachen besiegt, die Welt gerettet und mit dem Bären... nun ja. Was in Faerûn passiert, bleibt in Faerûn.

Titelbild: Larian

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In den frühen 90er-Jahren vererbte mir mein älterer Bruder sein NES mit «The Legend of Zelda» und startete damit eine Obsession, die bis heute anhält.


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