Hintergrund

Technikverweigerer: Weltfremde Romantiker oder kluge Skeptiker?

David Lee
28.5.2018

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Neue Technologien werden entweder naiv bejubelt und überschätzt oder verteufelt. Differenzierte Zwischentöne kommen erst später. Können wir daraus etwas für die Gegenwart und die nahe Zukunft lernen?

Während 25 Jahren waren im Kanton Graubünden Autos verboten. Nicht auf speziellen Strassen im Nationalpark oder in der Churer Innenstadt, sondern generell. Autos an und für sich waren zwischen 1900 und 1925 auf Bündner Boden nicht erlaubt.

Früher war alles besser. Vor allem die Zukunft.

In der Reddit-Subpage RetroFuturism kannst du dich darüber amüsieren, wie sich die Menschen damals die Zukunft ausgemalt haben.

Solche auf Reddit geposteten Bilder können natürlich auch Fakes sein: Grafiken, die in der heutigen Zeit gemacht, aber auf alt gestylt wurden. Bei diesen Werbungen ist es offensichtlich, dass es Parodien sind:

Vorsicht vor den üblichen «Weisheiten»

Neue Technologien lösen bei den Einen Unsicherheit und Angst aus, bei Anderen Euphorie. Beide Lager haben natürlich das Gefühl, dass ihre Reaktion die einzig richtige sei. Aus der Sicht der Verweigerer sind die Enthusiasten naiv und unvorsichtig. Aus der Sicht der Befürworter sind die Verweigerer rückständig, phantasielos oder gar fundamentalistisch.

Welche die richtige Reaktion ist, zeigt erst der weitere Verlauf der Geschichte. Und oft stellt sich dann heraus, dass beide recht hatten. Gibt es dennoch so etwas wie einen klugen Umgang mit Neuem? Eine Grundhaltung, die uns davor bewahrt, Unbekanntes komplett falsch einzuschätzen?

Eine andere Aussage, die ich oft höre: Neue Technologien erweitern die Möglichkeiten im Guten wie im Schlechten. Sie seien deshalb nicht per se gut oder schlecht, sondern neutral. Das übliche Beispiel dafür ist die Nukleartechnologie. Sie kann für Atombomben oder zur Stromproduktion genutzt werden.

Mir ist auch das zu simpel. Die Nukleartechnologie hat auch in der Stromproduktion gravierende Nachteile, das Negative überwiegt klar. Auf der anderen Seite gibt es Errungenschaften wie zum Beispiel das Wasserleitungssystem, die eindeutig positiv sind. Fliessendes Wasser war keine kontroverse Neuerung, da waren wohl nicht einmal erzkonservative Gruppen dagegen.

Die Machtfrage: Wem nützen Erfindungen?

Diese Kritikpunkte sind erstaunlich aktuell, wenn wir zum Beispiel an Google oder Facebook denken. Nur ist die Idee realitätsfern, man könne einer solchen Entwicklung Einhalt gebieten, indem man sie boykottiert.

Autos schienen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch nur einer kleinen, reichen Minderheit etwas zu nützen. Denn das Autoverbot im Kanton Graubünden war demokratisch legitimiert: Es wurde in mehreren Volksabstimmungen bestätigt, beim ersten Mal mit einer Mehrheit von sagenhaften 84 Prozent. Die Abstimmung 1925 fiel relativ knapp aus – die Befürworter siegten wohl im Hinblick auf den wachsenden Tourismus.

Beispiel Internet: Vielfalt und Monopole

Das Internet hat zu grossen Machtverschiebungen geführt und tut es noch immer. Einige dieser Verschiebungen gingen in Richtung mehr Gerechtigkeit und Gleichheit, andere in die entgegengesetzte Richtung. Beispiel: Im Internet kann (fast) jeder publizieren. Die Medienvielfalt steigt, Underdogs erhalten eine Stimme. Andererseits konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf weltweit einige wenige Plattformen. Die Zahl der wirtschaftlich rentablen Medienunternehmen sinkt.

Für mich als User sind Quasi-Monopole eigentlich praktisch: Ich muss nicht alles doppelt und dreifach machen und weiss immer, wo ich das richtige Angebot finde. Das Problem ist die Machtkonzentration, die vom betreffenden Konzern (oder Staat) missbraucht werden kann.

Innovation entsteht nicht zufällig

Man muss nicht rückständig oder technisch ahnungslos sein, um das problematisch zu finden. «Die sind selbst schuld, die hätten sich halt weiterentwickeln müssen», liest man dann oft. Nach dieser Logik sind die Ureinwohner Amerikas auch selber schuld, dass sie ausgerottet wurden. Hätten sich halt anpassen und bessere Waffen entwickeln müssen!

Verweigerung als Geschäftsmodell

Wenn du weit und breit der einzige bist, der sich einem Trend verweigert, kannst du daraus sogar ein Business machen. Oder es zumindest versuchen. Dazu passt die Story rund um den «strahlenfreien Ort» Soubey.

Soubey ist ein abgelegenes Kaff im Jura. Dieser Ort, wo praktisch niemand wohnt, kam lange nicht in den Genuss einer Mobilfunkantenne. Der Fortschritt hatte um Soubey einen grossen Bogen gemacht.

Politik lässt sich nicht ausklammern

Du kannst nicht für dich alleine entscheiden, ob du eine neue Technologie willst oder nicht. Wenn die WoZ damals entschieden hätte, keine Computer zu nutzen, hätte das die Entwicklung der Computer überhaupt nicht behindert, aber sehr wohl die Entwicklung der Zeitung. Wir haben ein Smartphone und nutzen Internetdienste, die wir eigentlich nicht so toll finden. Aber wir sehen, dass wir eigentlich nur uns selbst schaden, wenn wir das verweigern.

Teil-Rehabilitation: Verweigerung ist nicht per se dumm

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.

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