Disney
Kritik

«Lilo & Stitch» reloaded: Wie viel Herz steckt noch in Disney?

Luca Fontana
20.5.2025

Ich wollte mich aufregen. Über Disney. Über Nostalgie als Geschäftsmodell. Und dann sass ich da – mit Tränen in den Augen. Wegen Stitch. Und wegen zwei Schwestern, die mich nie losgelassen haben.

Keine Sorge: Die folgende Filmkritik enthält keine Spoiler. Ich verrate dir nicht mehr, als ohnehin schon bekannt und in den Trailern zu sehen ist. «Lilo & Stitch» startet am 22. Mai im Kino.

Das Jahr 2002. Disney steckt in der Krise. «Atlantis» hat gefloppt. «The Emperor's New Groove» auch. Und der nächste CGI-Gigant steht schon bereit: «Ice Age». Ausgerechnet jetzt. Doch dann schleicht sich ein kleiner Film aus Disneys Florida-Studio ins Rampenlicht – mit Aquarellfarben, Elvis-Songs und einem blauen Chaoten, der alles frisst, was nicht bei drei auf dem Surfbrett ist.

«Lilo & Stitch».

Dieser Film war eben anders. Ungehobelt, verspielt und überraschend emotional. Und intern fast ein Geheimprojekt: Der Präsident der Florida-Abteilung hielt ihn absichtlich so lange wie möglich vom Top-Management versteckt, damit niemand reinpfuschen konnte. Schliesslich war da keine Prinzessin. Kein Broadway-Kitsch. Und dann rüttelt der Film auch noch an jenen Familienwerten, die bei Disney sonst fast sakrosankt erscheinen.

Erst als der Film fast fertig war, durfte der nunmehr Ex-Disney-CEO Michael Eisner einen ersten Blick erhaschen. «Ich mag es», soll er gesagt haben. «Es ist seltsam. Aber ich mag es.»

Eisner drückte in einfachen Worten aus, was «Lilo & Stitch» ausmacht. Und über zwei Jahrzehnte später landet der Film nun genau dort, wo Disney inzwischen regelmässig seine grössten Hoffnungen versenkt: auf der Kinoleinwand. Als Realverfilmung. Als Nostalgieprojekt. Als einen weiteren Versuch, das Original zu polieren – bis es zwar hübsch glänzt, aber ein bisschen nach Plastik riecht.

Nur dass es hier nicht um irgendein Märchen geht. Sondern um Lilo. Um Stitch. Und vielleicht um das letzte Quäntchen Magie, das Disney noch zu bieten hat.

Kein grosser Wurf – aber ein kleines Wunder

Was soll ich sagen? Er hat mich erwischt. Nicht mit der Wucht einer Überraschung. Aber mit dem warmen Gefühl eines Wiedersehens. Der neue «Lilo & Stitch» ist kein radikaler Neustart. Kein dekonstruiertes Update. Er ist vielmehr das, was Disney heute gerne als «modernisiert» verkauft, in Wahrheit aber so nah am Original klebt, dass man stellenweise das Gefühl hat, man würde ihn aus dem Gedächtnis nachzeichnen.

Frame für Frame, Song für Song, Träne für Träne.

Die Laufzeit? Nur unwesentlich länger als beim Zeichentrickfilm. Die Story? Fast identisch. Figuren, Dialoge, Dynamiken – alles da. Nichts verbogen, nichts auf links gedreht. Und das funktioniert. Vielleicht gerade, weil es so schon einmal funktioniert hat. Weil diese Geschichte von Lilo, Nani und Stitch schon 2002 ehrlich und wunderschön war. Und es auch heute noch ist.

Natürlich kann man sagen: Das ist feige. Mutlos. Ein weiterer Nostalgia-Bait, der lieber kopiert als inspiriert. Wer schon mal die Seelenlosigkeit eines digitalen Simba gesehen hat, weiss, was ich meine. Aber man kann auch sagen: Wenn etwas so feinfühlig rekonstruiert ist, dass es mich erneut zum Weinen bringt – und ja, das hat es – dann darf es ruhig vertraut sein.

Denn egal, wie digital Stitch heute animiert ist: Seine Geschichte bleibt analog. Sie ist nicht in Texturen messbar, sondern in Emotionen. Und davon hat der Film, Remake hin oder her, noch immer mehr als genug.

Das Herz schlägt auf Hawaii

Wie sehr Stitch auch auf dem Poster prangt – es sind die Schwestern, die den Film tragen. Schon damals, 2002, war das keine gewöhnliche Disney-Familienkonstellation. Kein Vater, keine Mutter, keine Zauberformel. Nur Nani, Anfang zwanzig, viel zu jung für Verantwortung, aber plötzlich verantwortlich für alles. Und Lilo, ihre kleine Schwester, verletzlich, wütend, verloren – und voller Liebe, die einfach nirgends so richtig hinpasst.

Ganz klar: Maia Kealoha als Lilo ist die grosse Entdeckung des Films.
Ganz klar: Maia Kealoha als Lilo ist die grosse Entdeckung des Films.
Quelle: Disney

Dass genau diese Dynamik auch in der Realverfilmung funktioniert, liegt an zwei Entscheidungen: einer starken Besetzung und daran, dass der Film ihr Drama ernst nimmt. Vor allem Maia Kealoha als Lilo ist eine echte Entdeckung. Wild, verspielt, bockig, liebenswert. In manchen Szenen wirkt es, als wäre die gezeichnete Lilo einfach aus dem Bildschirm gestiegen und Fleisch und Blut geworden.

Ihre Schwester Nani – gespielt von Sydney Elizebeth Agudong – ist mindestens genauso stark. Diese Mischung aus Überforderung, Fürsorge, Frust und bedingungsloser Liebe bringt sie mit einer Intensität auf die Leinwand, die mir mehr als einmal den Hals zugeschnürt hat. Wenn sie genervt die Augen verdreht oder mit versteinerter Miene versucht, ruhig zu bleiben, während innerlich alles zerfällt, dann ist das keine Disney-Magie. Das ist einfach Menschlichkeit.

Oh Nani, ich fühle mit.
Oh Nani, ich fühle mit.
Quelle: Disney

Und genau das unterscheidet diesen Film von vielen anderen Remakes: Er will nicht einfach animierte Nostalgie in Live-Action konservieren. Er sucht nach derselben Bedeutung, die schon der Zeichentrickfilm ausgemacht hat.

Denn «Lilo & Stitch» erzählt nie von Heldentaten, sondern von Zusammenhalt. Von Überforderung. Von zwei Schwestern, die viel zu jung sind, um stark zu sein – und es trotzdem sein müssen. Diese Dynamik steht auch im Remake im Mittelpunkt. Sie wird nicht reduziert. Nicht entschärft. Nicht verklärt. Sie wird ernst genommen. So ernst, wie es Disney viel zu selten tut, wenn es um echte, gebrochene, ungeschönte Familien geht.

Vielleicht ist genau das die grösste Stärke von «Lilo & Stitch».

Kleine Veränderungen, grosse Wirkung?

Wer die Vorlage kennt, wird schnell merken: Die Live-Action-Version von «Lilo & Stitch» bleibt ihrer DNA treu. Der Film erzählt keine neue Geschichte, er schreibt sie auch nicht um – er schärft sie nur an den richtigen Stellen mit kleinen Veränderungen leicht nach.

Untypisch für das Haus der Maus: Patchwork-Familie im Zentrum der Story.
Untypisch für das Haus der Maus: Patchwork-Familie im Zentrum der Story.
Quelle: Disney

Eine davon: Nani. In einer Szene erfahren wir, dass sie eigentlich ein Stipendium für Meeresbiologie bekommen hätte. Ein Platz auf dem College. Ein Neuanfang. Ein Leben nur für sie. Aber Nani entscheidet sich anders – für das, was zählt. Für ihre Schwester. Für ihre gemeinsame Geschichte. Für Ohana.

Das Wort bedeutet nämlich nicht nur Familie, wie uns schon der 2002er-Zeichentrickfilm beigebracht hat. Es bedeutet auch, dass niemand zurückgelassen wird.

Oder vergessen.

Dieser eine Moment – auch im Live-Action-Remake still, beiläufig, fast unspektakulär inszeniert – trifft mich härter als so manche dramatische Szene. Weil er zeigt, was Nani wirklich trägt: keine Superkraft, keine Magie, aber Verantwortung. Und Liebe, die nicht laut ist, dafür kompromisslos.

Solche kleinen Verschiebungen machen aus einer blossen Neuverfilmung einen Film mit eigenem Puls. Fast identisch mit dem Original – und doch getragen von etwas Eigenem. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus echtem Verständnis. Deshalb fühlt sich «Lilo & Stitch» 2.0, bei aller Nähe zur Vorlage, nicht wie eine Kopie an. Mehr wie ein Wiedersehen.

Eines mit Falten in der Stirn, vielleicht, aber demselben grossen Herz.

Die Kraft der Anti-Helden

Und dann ist da natürlich noch Stitch. Diese kleine blaue Katastrophe auf zwei Beinen. Immer noch frech, wild, laut – und gleichzeitig so verloren, dass man ihn am liebsten einfach in den Arm nehmen möchte. Er bleibt, was er immer war: eine Störung im Disney-System. Kein Held mit glänzendem Schild. Kein Bösewicht mit Läuterungsbogen.

Ein Fremdkörper, der Platz findet.

Stitch, wie wir ihn kennen und lieben – und im O-Ton erneut vom originalen «Lilo & Stitch»-Regisseur Chris Sanders gesprochen.
Stitch, wie wir ihn kennen und lieben – und im O-Ton erneut vom originalen «Lilo & Stitch»-Regisseur Chris Sanders gesprochen.
Quelle: Disney

Genau das macht «Lilo & Stitch» bis heute so besonders: Das Chaos wird nicht beseitigt, bekämpft oder umprogrammiert. Es wird integriert. Weil Familie nicht perfekt ist. Und weil jemand bleiben darf, auch wenn er anders ist. Am Ende steht kein Sieg. Am Ende steht eine der herzerwärmendsten Umarmungen der Zeichentrickgeschichte.

Schön hat sich auch die Realverfilmung diese radikale Weichheit in ihrem Kern bewahrt. Der Glaube daran, dass Zugehörigkeit nicht verdient werden muss, sondern geschenkt wird. Vielleicht ist das die grösste Heldentat, zu der Stitch fähig ist: Er rettet nicht die Welt. Er findet ein Zuhause.

Fazit

Ein Film wie ein warmes Wiedersehen

Ich bin nicht blind für das, was «Lilo & Stitch» ist. Eine Realverfilmung. Ein Remake. Und ein Produkt in einer langen Reihe von plumpen Disney-Versuchen, vergangene Magie neu zu verkaufen. Doch es wäre falsch, ihn nur darauf zu reduzieren.

Denn so kalkuliert dieser Film im Konzept auch sein mag – in der Ausführung ist er ehrlich. Er imitiert nicht einfach. Er fühlt mit. Er kopiert nicht nur Momente, er rekonstruiert ihre Bedeutung. Und er trifft sie oft genug, dass ich mich wieder anstecken lasse: vom Schmerz, vom Chaos und von der Wärme.

Nein, «Lilo & Stitch» ist nicht mutig. Er wagt nichts Neues. Aber er erinnert daran, was schon einmal funktioniert hat – und warum. Weil es nie um Spektakel ging. Nie um Prinzessinnen, nie um Zaubersprüche. Sondern um Familie, um Bindung und um das Versprechen, dass niemand zurückgelassen wird. Und ja: Vielleicht muss ein Remake gar nicht immer die bessere Version sein. Vielleicht reicht es einfach, eine gute zu sein.

Titelbild: Disney

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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