Hintergrund

Ein weltweiter Wettlauf, von dem du noch nie gehört hast

Michael Restin
28.10.2020

Kleine Zeiträume spielen im Sport eine grosse Rolle. Edle Zeitmesser auch. Den Weltrekord hält aber die Wissenschaft.

Der «Kampf gegen die Uhr» gehört zum Sport. Am Ende entscheidet die Zeit über Sieger und Versager. Ein Wimpernschlag zerstört Träume oder krönt Karrieren. Wobei ein Wimpernschlag, der etwa 0,15 Sekunden dauert, nach heutigen Massstäben eine Ewigkeit ist. Die Obsession in Bezug auf Zeit ist ein teuflischer Pakt, der immer weiter getrieben wird. Je mehr Drama, desto besser. Ich war gerne dabei. Habe am TV mitgefiebert, Nachspielzeiten durchlitten, Zwischenzeiten interpretiert und Endzeiten bejubelt.

Dabei ist die Entwicklung extrem: Zehntel sind nichts mehr, es geht um Hundertstel und Tausendstel. Hauptsache, die Sieger sind von den «Verlierern» zu trennen. Selbst wenn das menschliche Auge längst keinen Unterschied mehr feststellen kann. 1936 wurden bei den Olympischen Spielen erstmals die Zeiten der Skifahrer mit zwei Stoppuhren an Start- und Ziellinie gemessen und anschliessend die Fahrzeit berechnet. 2012 filmten bei den Sommerspielen in London Spezialkameras die Ziellinie mit 2000 Bildern pro Sekunde – die brauchte es auch, um Nicola Spirigs Sieg im Triathlon festzustellen.

Der Kampf um die Uhr

Der Kampf um die Uhr gehört genauso zum Sport. So kämpft zum Beispiel Sepp Blatter, der vor seiner FIFA-Karriere Anfang der 70er als Direktor für Öffentlichkeitsarbeit bei Longines zwischen Zeit- und Sportwelt vermittelt hat, um seine Uhrensammlung. Die wertvollen Stücke liegen angeblich noch bei seinem Nachfolger Gianni Infantino im Büro. Doch die Lage ist unübersichtlich, es sind einfach zu viele. Dass sich Luxus-Chronographen in Funktionärsbüros stapeln, gehört zur Folklore. Es gibt schliesslich nichts Schöneres, als Zeit zu verschenken. Vor allem, wenn sie vergoldet und von fünfstelligem Wert ist.

Doch Zeiten ändern sich. Während bislang jeder Skandal im Jubelmeer versank, steht der Sport momentan nackt da. Die Show wird irgendwie durchgezogen, klar. Doch Emotionen fehlen und es wird immer offensichtlicher, wie das Business tickt und wer das Geld einsteckt. Mir ist derzeit egal, wer den Clásico gewinnt oder wann der Ski-Weltcup beginnt. Ich lese es, doch es berührt mich nicht mehr und ich schalte kaum noch ein.

Schaust du noch Live-Sport?

  • Ja, ich schalte weiter ein.
    32%
  • Viel seltener als früher.
    34%
  • Nein, ohne Fans und Stimmung interessiert mich das nicht.
    34%

Der Wettbewerb ist inzwischen beendet.

Die Zeit der dicken Uhren scheint abgelaufen, die Absatzzahlen brechen ein. Die Einschaltquoten grosser Sportligen auch. Schuld ist – natürlich – die Zeit. Die Zeit, in der wir Leben. Und in der niemand so genau weiss, was die Stunde geschlagen hat.

Bild: Twitter/@gabrielvetter
Bild: Twitter/@gabrielvetter

Zeit für neue Helden

Die einzige Sportnachricht, die bei mir in den letzten Wochen hängengeblieben ist, ist gar keine. Es ist ein Weltrekord im Stoppuhr-Stoppen. «Im weltweiten Wettlauf um die Messung der kürzesten Zeitspanne liegen jetzt Physikerinnen und Physiker der Goethe-Universität Frankfurt vorn», durfte ich in der Pressemitteilung der Uni lesen. Ach?

Irgendwie berührt mich dieser wissenschaftliche Wettlauf, von dem ich Zeptosekunden zuvor noch nie gehört hatte. Genauso, wie «Zeptosekunden» nicht zu meinem Wortschatz gehörten. Bei «Nano» war Schluss. Nanosekunden sind aus Zeptosekundensicht eine Ewigkeit. Eine Zeptosekunde ist ein Billionstel einer Milliardstel Sekunde, lerne ich.

Etwa 247 Zeptosekunden dauert es, bis ein Lichtteilchen ein Wasserstoffmolekül durchquert hat. Um das herauszufinden, brauchte es die Röntgenstrahlungsquelle PETRA III am Hamburger Beschleunigerzentrum DESY, das COLTRIMS-Reaktionsmikroskop und nerdigsten Sachverstand. Wobei sich Sven Grundmann, auf dessen Doktorarbeit die Publikation in Science beruht, doch fast wieder wie ein Trainer anhört, der nach dem Spiel erklärt, wie er die Taktik des Gegners entschlüsselt hat: «Da wir die räumliche Orientierung des Wasserstoffmoleküls kannten, konnten wir aus der Interferenz der beiden Elektronenwellen sehr genau errechnen, wann das Photon das erste und wann es das zweite Wasserstoffatom erreicht hatte.»

Photon-Finish

Falls du es immer noch nicht verstanden hast, gibt es unten nochmal das Photon-Finish, beziehungsweise die schematische Darstellung der Messung. Den Bildtext werde ich genau so wiedergeben, wie er in der Pressemitteilung steht. Weil ... besser könnte ich's auch nicht sagen. Profi-Tipp: Denk dir den aufgeregten Duktus eines Sportreporters dazu. Beni Thurnheer auf 180: «Das Photon in gelb, von links kommend...»

Das Photon (gelb, von links kommend) erzeugt aus der Elektronenwolke (grau) des Wasserstoffmoleküls (rot: Atomkerne) heraus Elektronenwellen, die interferieren (Interferenzmuster: violett-weiß). Das Interferenzmuster ist ein wenig nach rechts verzerrt, woraus sich ausrechnen lässt, wie lange das Photon von einem Atom zum anderen benötigt hat.
Das Photon (gelb, von links kommend) erzeugt aus der Elektronenwolke (grau) des Wasserstoffmoleküls (rot: Atomkerne) heraus Elektronenwellen, die interferieren (Interferenzmuster: violett-weiß). Das Interferenzmuster ist ein wenig nach rechts verzerrt, woraus sich ausrechnen lässt, wie lange das Photon von einem Atom zum anderen benötigt hat.
Quelle: Sven Grundmann, Goethe-Universität Frankfurt

Damit ist der Stoppuhr-Weltrekord pulverisiert. Vom Milliardstel einer Millionstel zum Billionstel einer Milliardstel Sekunde ist es ein gewaltiger Sprung. Bislang waren Femtosekunden das Mass aller Dinge. Für die Vermessung der Geschwindigkeit, in der Moleküle schwingen, erhielt der ägyptische Chemiker Ahmed Zewail 1999 den Nobelpreis. Respekt. Aber Zepto? Poah!

Ich weiss noch immer nicht, warum mich diese Dinge, von denen ich offenkundig Null Ahnung habe, faszinieren. Vielleicht, weil Wissenschaftler und ihre mühsame Detailarbeit im Rampenlicht stehen wie noch nie. Und weil ich mir – wie die meisten von uns – wünsche, dass die Wissenschaft gewinnt.

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Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.


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