
Hintergrund
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von Michelle Brändle
Der neue mittelalterliche Städtebau-Simulator «City Tales: Medieval Era» verspricht kreatives Gameplay ohne Raster. Ich habe mir das Spiel angeschaut und viel «Anno 1800» gefunden.
Gute Zeiten für mich! Mein Vater, der König, überträgt mir einen fruchtbaren und sehr idyllischen Landstrich, auf dem ich zum Wohle des Königreichs eine prosperierende Siedlung errichten soll. Zum Glück steht mir ein fähiger Berater zur Seite – der verdächtig nach Sean Connery in «Der Name der Rose» aussieht. Ich habe auch einige Gefährten dabei, die mir zur Hand gehen. Nicht lange dauert es, bis sich erste Handwerker und Kaufleute in meiner wachsenden Stadt niederlassen.
Im hübschen Indie-Städtebau-Simulator «City Tales: Medieval Era» sehe ich schnell Fortschritte. Zu schnell für meinen Geschmack. Nach gerade einmal sechs Spielstunden habe ich schon eine große Burg, mehrere Theater und beeindruckende Villen in meinem Städtchen.
«City Tales» macht optisch und akustisch viel her. Besonders die höherstufigen Gebäude sind detailreich gestaltet. Verwinkelte Stadtvillen mit Erkern, Dachgauben und Türmchen stehen in Gärten mit bunten Blumen. Die Umgebung spart ebenfalls nicht an hübschen Details: Blumenwiesen, glitzernde Bäche und dazwischen organisch entstandene Wege erinnern an das Städtebau-Juwel «Foundation». Auch der Soundtrack plätschert unaufdringlich im Hintergrund herum. Für eine entspannte Atmosphäre ist in «City Tales» also gesorgt. Aber wie sieht es mit dem Gameplay aus?
Anders als in den meisten Städtebau-Simulatoren platziere ich Stadtgebäude nicht selbst oder lege Zonen fest, in denen sie errichtet werden sollen. In «City Tales» läuft alles über Distrikte. Das sind Stadtviertel, die Wohn- und Geschäftsgebäude beherbergen können. Die äußere Begrenzung eines Distrikts lege ich mit einem speziellen Werkzeug fest. Eine bestimmte Form muss das Viertel nicht haben.
Ein Distrikt weist Grundstücke für mehrere Gebäude aus. Hat meine Stadt Bedarf an neuen Wohnhäusern, errichten die Dörfler sie selbständig in Distrikten mit freien Grundstücken. Dienstleistungs- und Handwerksgebäude kann ich ebenfalls nur in Distrikten beauftragen. Das Grundstück dafür bestimmen ebenfalls meine Untertanen. Ohne freie Grundstücke reißen meine emsigen Dörfler ohne mit der Wimper zu zucken ein Wohnhaus ein und werfen die Einwohner aus dem Viertel. Schön – solange sich niemand bei mir beschwert, bin ich zufrieden. Und Beschwerden gibt’s in «City Tales» nicht.
Jeder Distrikt beeinflusst andere Distrikte in seinem Umkreis. Befindet sich in einem Distrikt zum Beispiel ein Brunnen und ein Theater, profitieren auch die Distrikte in der Nachbarschaft von Wasser und Unterhaltung. Auch viele Stadtgebäude erfordern für den Bau bestimmte andere Gebäude in der Umgebung. Das kann teilweise willkürlich wirken. Warum benötigt die Gerberei einen Markt und eine Kirche in der Nähe?
Trotzdem mag ich die Idee mit den asymmetrischen und unterschiedlich großen Distrikten. Dadurch entstehen Städte, die deutlich organischer wirken als zum Beispiel bei «Anno 1800» mit seinem 90-Grad-Winkel-Raster.
Apropos «Anno 1800»: Von dort hat sich «City Tales» das Upgraden der Wohngebäude abgeschaut. Ich stufe Gebäude manuell hoch, wenn die Bedürfnisse der Bewohner befriedigt sind. Dazu gehört immer der Zugang zu bestimmten Dienstleistungsgebäuden, die sich in der Nähe befinden. Zum Beispiel ein Brunnen, ein Markt oder eine Kirche. Außerdem muss ich genügend Ressourcen, etwa Steine und Holz – später auch Dachziegel und Zement – im globalen Lager haben.
Im Gegensatz zum berühmten Vorbild hat nicht jedes Haus dieselben Anforderungen für ein Upgrade. Während die Bewohner eines Hauses sich lieber eine Kirche in der Umgebung wünschen, wollen die Nachbarn vielleicht eher ins Theater. Das macht am Ende nicht viel aus, weil ich für eine gute Abdeckung aller Gebäude sorge. Der Ansatz gefällt mir, aber vielleicht lässt er sich noch ausbauen.
Das Gefährten-Konzept in «City Tales» ist mir ebenfalls neu. Meine Gefährten sind keine steuerbaren Heldenfiguren, sondern handwerkliche Helfer. Jedes neue Produktionsgebäude muss zunächst von einem meiner Gefährten besetzt werden. Das Spiel erklärt das so: Die Gefährtin baut den Betrieb auf und lernt meine Dörfler ein. Nach einer Weile verstehen die das Handwerk und ich kann meine Gefährtin woanders einsetzen.
Meine Gefährten sammeln während ihrer Arbeitseinsätze Erfahrungspunkte – als Schmied etwa im Bereich «Produktion». Ihre Erfahrung können sie dann auch in anderen Gebäuden des Typs «Produktion» einsetzen. Je mehr Erfahrung sie in diesem Bereich gesammelt haben, desto effizienter und schneller arbeiten die Gebäude, in denen sie mithelfen.
Dieses Konzept gefällt mir grundsätzlich gut, bietet Gameplay-technisch aber auch nicht viel Tiefe. Natürlich versuche ich, die Gefährten dort einzusetzen, wo sie ihre neugewonnenen Skills gut einsetzen können – viel Hirnschmalz und Planung ist dafür allerdings nicht nötig.
Gefährten geben mir des Weiteren hin und wieder Aufgaben. Die Texte dazu (bisher nur auf Englisch) sind schön geschrieben, die Aufgabenstellungen aber wenig komplex: Ich soll fünf Wohnhäuser upgraden oder 30 Cidre herstellen. Diese Aufgaben erledige ich sowieso im Vorbeigehen. Das Abschließen mancher Aufgaben schaltet neue Produktions- und Dienstleistungsgebäude frei. Einen Forschungsbaum gibt es nicht.
Mit den neuen Gebäuden stelle ich die mit der Zeit immer anspruchsvolleren Dörfler zufrieden. Wobei «zufrieden» nicht ganz treffend ist, denn einen Zufriedenheitswert gibt es in «City Tales» nicht. Ein Gefühl für die Mühen des täglichen Lebens meiner Untertanen kommt dadurch überhaupt nicht auf.
Das liegt auch daran, dass es kaum etwas zu verwalten gibt. Produzierte Erzeugnisse sind rein virtuell. Es wird nichts transportiert und ich muss keine Lager bereitstellen. Die Produkte scheinen nur in der oberen Interface-Leiste zu existieren, die Auskunft über ihre global verfügbare Menge und Produktionstendenzen gibt (Vorrat ansteigend, sich verkleinernd oder gleichbleibend). Die Anzeige ist sehr übersichtlich und auch für Genre-Einsteiger gut verständlich.
Der geringe Verwaltungs- und Optimierungsaufwand macht das Spiel einfach, um nicht zu sagen anspruchslos. Mangelt es an einem Produkt oder einer Dienstleistung, stelle ich einfach das entsprechende Gebäude dort auf, wo die Voraussetzungen erfüllt sind. Ansonsten spare ich für den Bau neuer Gebäude oder Wohngebäude-Upgrades. Neben dem Anlegen neuer Distrikte ist das eigentlich der ganze Spielinhalt.
An Geld mangelt es mir oft. Ein Problem ist dabei auch, dass ich keinen Einblick in meine Bilanzen habe. Wobei die sowieso überschaubar wären: Es gibt weder Gebäudeunterhalt noch Gehälter. Die einzigen Kosten entstehen durch den Bau oder das Hochstufen eines Gebäudes.
Auf der Einnahmenseite stehen meine Einwohner: Je höher die Stufe eines Wohngebäudes, desto mehr Steuern müssen die Bewohnerinnen mir zahlen – aber wann und wie oft? Manchmal warte ich für den Bau eines Hauses auf ein paar Goldstücke, aber im Geldbeutel rührt sich ewig nichts. Einen Kalender, zum Beispiel für Einnahmen am Monatsende, gibt es nicht.
Auch Deko-Objekte wie zusätzliche Bäume, Wäscheleinen, Schilder und mehr – die übrigens stark an «Foundation» erinnern – scheinen keinen Zweck zu erfüllen. Normalerweise dekoriere ich meine Städte gern. Bei «City Tales» habe ich dazu aber keinen Anreiz. Die Häuser und Gärten, die das Spiel selbstständig anlegt, sind bereits bunt und hübsch dekoriert. Da fallen ein paar Deko-Blumenpötte mehr entlang der Straßen nicht auf.
Nach kaum sechs Spielstunden tummeln sich schon fast 2000 Einwohnerinnen und Einwohner in meiner Stadt. Straßen und Distrikte sind voll von Menschen – zu denen ich aber keine Beziehung habe. Ich muss keine Arbeiter zuweisen, alles passiert automatisch. Auch das erinnert an «Anno 1800». Die Handwerker vor den Gebäuden arbeiten fleißig – ohne Unterlass. Steht der Tischler einmal an der Säge, verlässt er seinen Arbeitsplatz nie wieder.
Meine Untertanen sind eine reine Kulisse. Obwohl «City Tales» wirklich hübsch ist, habe ich kaum einen Grund, Häuser und Menschen aus der Nähe anzuschauen. Ich verfolge nicht wie in anderen Spielen gespannt, wann der Träger endlich das lange erwartete Brot zum Lagerhaus bringt. Ich brauche an Baustellen nicht auf Bauarbeiter zu warten. Alles passiert schnell und automatisch. Das finde ich schade.
Für den Bau der Burg muss ich eine Weile sparen. Ich freue mich darauf, sie fertigzustellen und damit eventuell eine neue Gameplay-Mechanik kennenzulernen. Doch nichts da: Mein Ratgeber lobt mich nach der Einweihung zwar, rückt aber weder Geld noch neue Gebäudepläne oder sonst etwas heraus. Und das Schlimmste: Die Burg scheint aktuell nicht einmal einen Zweck zu erfüllen. Damit ist sie bislang ein reines (teures) Deko-Objekt.
Ich merke «City Tales» an, dass Liebe dahintersteckt. Die Charaktere sind schön gezeichnet, die Dialoge liebevoll geschrieben, die Umgebung voller wunderschöner Details.
Das hilft aber alles nichts, wenn das Spiel mich nicht fesseln kann. Weil ich so schnell eine große Stadt bauen kann, bleiben die Erfolge blass. Ich freue mich kaum darüber, neue Gebäude freigeschaltet zu haben, weil es nicht schwer war, das zu erreichen. Ich habe zu wenig zu organisieren und zu wenig zu planen. Das Spiel bringt einige frische Ideen mit, ist hinsichtlich der mittelfristigen Motivation aber ausbaufähig. Das ist okay, denn das Spiel befindet sich im Early Access.
Vielleicht bin ich bei der riesigen Anzahl an verfügbaren Städtebau-Simulatoren mittlerweile etwas zu anspruchsvoll geworden. «City Tales: Medieval Era» ist kein schlechtes Spiel und es bietet ein paar spannende Ansätze. Wenn du entspanntes Gameplay mit wenig Management magst und du dich nicht um einen finanziellen Bankrott, Krieg, Krankheit und unzufriedene Einwohner sorgen möchtest, könnte es dir gefallen.
«City Tales: Medieval Era» ist ab dem 22. Mai im Early Access auf Steam für Windows erhältlich. Das Spiel wurde mir zu Testzwecken von Firesquid zur Verfügung gestellt.
Fühlt sich vor dem Gaming-PC genauso zu Hause wie in der Hängematte im Garten. Mag unter anderem das römische Kaiserreich, Containerschiffe und Science-Fiction-Bücher. Spürt vor allem News aus dem IT-Bereich und Smart Things auf.