Hintergrund
Der legendäre «Pulp Fiction»-Koffer: Was ist drin?
von Luca Fontana
Der Aktenkoffer aus «Pulp Fiction». Der Ring der Macht aus «Lord of the Rings». Die Pläne des Todessterns aus «Star Wars». Sie alle haben etwas gemeinsam: Es sind MacGuffins. Was hat es damit auf sich? Warum können sie Filme kaputtmachen – und wie werden sie richtig eingesetzt?
Geschichten drehen sich um Konflikte. Um Auseinandersetzungen. Kriege. Dilemmas. Dramas. Streits. Oder auch einfach nur um Gut gegen Böse und all dem, was dazwischen ist. Auslöser dieser Konflikte sind oft MacGuffins. Etwa in Quentin Tarantinos «Pulp Fiction».
Mac-wie-bitte-was-für-ein-Guffin?
Leser Anonymous hat in meinem Artikel über den mysteriösen Inhalt des Pulp-Fiction-Aktenkoffers folgendes geschrieben:
Anonymous bezieht sich auf den Pulp-Fiction-Koffer: Dessen Inhalt schimmert goldig, wir Zuschauer kriegen ihn nie zu sehen. Aber alle Figuren im Film wollen ihn unbedingt haben. Ein klassischer MacGuffin eben. Und ein guter obendrein. Aber dazu komme ich noch. Zuerst möchte ich dir erklären, was ein MacGuffin überhaupt ist…
… und wieso MacGuffins Filme kaputtmachen können.
Den Begriff «MacGuffin» geprägt hat Drehbuchautor Angus MacPhail, der oft mit Hitchcock zusammengearbeitet hat. Das jedenfalls geht aus dem Buch «The Art of Alfred Hitchcock» hervor. Der Begriff sei demnach eine Kombination aus dem Namen MacPhails und dem englischen Begriff «Guff», was soviel wie «Stuss», «Mumpitz» oder einfach nur «ein Haufen Unsinn» bedeutet.
Im Radio-Interview mit François Truffaut im Jahr 1962 erklärt Hitchcock den MacGuffin noch so:
Zehn Jahre später, und etwas detaillierter, erläutert Hitchcock den MacGuffin in der «The Dick Cavett Show» wie folgt:
Die Regie-Legende fügt in der Dick Cavett Show an, dass MacGuffins oft in Spionage-Filmen zu finden sind. Wohl, weil die Handlung – zumindest für die 70er Jahre üblich – im Wesentlichen immer so abläuft: Der Bösewicht will etwas, womit er an die Weltherrschaft gelangen oder die Welt gar zerstören könnte. Der Spion muss ihn aufhalten, in dem er dem Bösewicht zuvorkommt und den Gegenstand zuerst kriegt.
Dieser Gegenstand ist ein MacGuffin.
Es könnte ein Serum sein, ein Gift, das die Menschheit auslöscht. Es könnte eine Bombe sein. Oder Geheimpläne. Eine übermächtige Waffe, die den Träger unbesiegbar macht. Irgendwas, was die Handlung auslöst oder vorantreibt. Uns Zuschauern ist das Schicksal dieses «Dings» im Grunde genommen egal – uns beschäftigt nur, welche Konsequenzen und Entscheidungen es dem Protagonisten abverlangt, an den MacGuffin zu gelangen, ihn zu beschützen oder gar zu zerstören.
Anders gesagt: Was der Hammer für den Handwerker ist, ist der MacGuffin für den Erzähler – ein Werkzeug. Ein erzählerisches Werkzeug. Es wird benötigt, um die Handlung auszulösen, ist für sie womöglich gar fundamental. Aber für uns Zuschauer nicht. Für uns zählt nicht das Werkzeug, sondern das, was damit gebaut wird: die Geschichte.
Das Problem des Werkzeugs «MacGuffin»: Es kann Geschichtenerzähler und Drehbuchautoren faul machen.
Eine Geschichte braucht einen Konflikt. Am einfachsten ausgelöst wird er durch einen MacGuffin.
In «Justice League» müssen Batman und Co. die Invasion der Erde durch den bösen Steppenwolf verhindern. Das würde dann geschehen, wenn Steppenwolf die drei Mutterboxen in die Hände fielen, die auf der Erde versteckt sind. Also: Mutterbox wichtig, darf der Böse nicht kriegen.
MacGuffin-typisch werden die Mutterboxen nie wirklich erklärt. Müssen sie ja gar nicht. Es sind einfach magische, graue Boxen, die irgendeine universelle Kraft haben, die dem Bösen nicht in die Hände fallen darf. Die Oberflächlichkeit des MacGuffins macht den Konflikt des Films genauso oberflächlich. Und damit die ganze Handlung. «Justice League» ist bei Publikum und Kritikern zurecht schlecht weggekommen.
Das zeigt, dass MacGuffins, so effizient sie sich auch beim Geschichtenerzählen einsetzen lassen, Filme kaputt machen können. Sie verleiten dazu, faul zu sein, weil sich Geschichten ohne echte Konflikte «erzwingen» lassen: Oft reicht schon ein MacGuffin und die Prämisse aus, dass alles wegen diesem Ding da passiert, das jetzt halt wichtig ist. Eine überzeugende Story und Charaktere, die einem nicht egal sind, bleiben auf der Strecke.
Noch mehr Beispiele? Das Mutagen aus dem 2014er «Teenage Mutant Ninja Turtles». Der Allspark aus «Transformers». Oder der Äther aus «Thor: The Dark World». Sie alle erfüllen die Voraussetzungen des Hitchock’schen MacGuffins perfekt. Sie offenbaren aber auch seine Schwäche: Es ist austauschbar. Und damit langweilig.
Es gibt allerdings Tricks, die den MacGuffin zu mehr machen als bloss einem «Ding» mit ulkigem Namen.
Sage Hyden, der auf seinem Youtube-Kanal Just Write übers Filmemachen vloggt, hat meiner Meinung nach ziemlich gut erklärt, wie MacGuffins richtig eingesetzt funktionieren. Zum Schluss gibt er vier Empfehlungen ab:
MacGuffins müssen nicht zwingend alle vier Punkte erfüllen, um gut zu sein. Vielleicht nicht mal einen davon. Denn Hyden will weniger Regie-Meister Hitchcock widersprechen, sondern eher Tipps geben, wie weniger erfahrene Geschichtenerzähler die erzählerischen Tücken generischer MacGuffins vermeiden können.
Zur Erinnerung: Der MacGuffin ist etwas, das die Figur in der Geschichte zwar kümmert, mich als Zuschauer aber nicht. Darum liegt es auf der Hand, dass die Geschichte dem MacGuffin nicht mehr Aufmerksamkeit geben will, als für die Handlung unbedingt notwendig.
Was passiert aber, wenn der MacGuffin eine alles bedrohende Super-Mega-Waffe aus der übergeordneten Paralleldimension ist?
Die Geschichte, die daraus entstünde, würde sich in eine erzählerischen Ecke schreiben. Zwangsläufig. Denn sie wird kaum anders können, als mit einem Endkampf um die Superwaffe, dem MacGuffin, zu enden. Das ist langweilig und vorhersehbar. Der MacGuffin nimmt erzählerisch Überhand – auf kosten der Figuren und jener Konflikte, die uns eigentlich viel mehr interessieren. So geschehen im obigen Beispiel «Justice League» mit den omnipräsenten Mutterboxen.
Ein guter MacGuffin zeichnet sich aber dadurch aus, die Handlung voranzutreiben, ohne zu viel Raum einzunehmen. Nehmen wir Orson Welles 1941er «Citizen Kane». Der Film beginnt mit den letzten Worten des US-amerikanischen Zeitungsmagnaten Charles Foster Kane: «Rosebud», zu Deutsch: «Rosenknospe».
Das Wort «Rosebud» – das ist der MacGuffin.
Denn für eine Wochenschau über Kanes Tod soll der richtige Aufhänger gefunden werden – etwas, das die Privatperson Kane treffend charakterisiert. Darum wird Reporter Thompson beauftragt, herauszufinden, was hinter «Rosebud», Kanes letztem Wort, tatsächlich steckt. Obwohl es der MacGuffin ist, der die Handlung auslöst und vorantreibt, ist es das Rekonstruieren des Lebens des facettenreichen und vielschichtigen Charles Foster Kanes, das uns Zuschauer in seinen Bann zieht.
Der an sich unspannende MacGuffin kann spannend gemacht werden, indem er mit Geheimnissen und Mysterien ummantelt wird; wenn schon ein MacGuffin die Handlung bestimmt, dann wenigstens einer, der neugierig macht.
Etwa der Pulp-Fiction-Koffer, den alle im Film jagen und in ihren Besitz zu bringen versuchen. Im ersten Drehbuchentwurf enthielt er Diamanten. Langweilig, fand Quentin Tarantino. Also beschloss der Regisseur, aus dem Inhalt ein Geheimnis zu machen: Wir Zuschauer kriegen nichts als den goldigen, womöglich übernatürlichen Schimmer zu sehen, der vom Inhalt ausgeht. Und wer immer den Koffer öffnet, kommt mit goldenem Schimmern im Gesicht kaum aus dem bewundernden Staunen raus.
So entsteht ein MacGuffin, der alles andere als langweilig ist.
Auch spannend: Die Hasenpfote aus «Mission: Impossible 3», ein nie erklärtes Objekt, das dem Bösewicht des Films 850 Millionen Dollar wert ist, weil es einen Krieg zwischen den USA und Russland auslösen könnte. Oder die Bundeslade aus «Indiana Jones», mit deren göttlichen Mächten Nazideutschland den Krieg für sich entscheiden will – wie verheerend diese Mächte tatsächlich wirken, erfahren wir erst zum Schluss. Und, ja: Auch «Rosebud» aus «Citizen Kane» ist ein mysteriöser MacGuffin, weil die Frage nach der tatsächlichen Bedeutung des Worts die Handlung nicht nur auslöst, sondern uns Zuschauer bis zum Schluss beschäftigt.
Als Regisseur George Lucas anno 1977 seinen ersten «Star Wars» in die Kinos brachte, widersprach er Alfred Hitchcocks Definition eines MacGuffins. Denn Lucas fand, dass sich Zuschauer sehr wohl um den MacGuffin kümmern sollen.
Der MacGuffin aus «Star Wars» sind die Pläne des Todessterns. Sie könnten der Rebellenallianz vielleicht vorhandene Schwächen der planetenzerstörenden Raumstation enthüllen. Zu Beginn des Films werden die Pläne im Droiden R2-D2 versteckt, damit dieser dem Galaktischen Imperium entkommen und sicher zur geheimen Basis der Rebellenallianz zurückkehren kann. Dort soll er die Pläne an die eigenen Leute übergeben.
George Lucas hat soeben einer seiner Hauptfiguren zum MacGuffin gemacht.
Das ist clever. Wer «Star Wars» zum ersten Mal sieht, dem mag es Anfangs noch egal sein, wer zum Schluss die Pläne kriegt. Aber das Schicksal des kleinen, sympathischen Astromech-Droiden ist uns Zuschauern zu keiner Sekunde egal. Und damit auch nicht der MacGuffin.
Übrigens ein Trick, den nicht nur Regisseur J. J. Abrams in «Star Wars: Episode 7» mit dem Astromech BB-8 und der Karte, die zu Luke Skywalker führen soll, wiederholt. Auch Regisseur Todd Phillips bedient sich in «Hangover» dieses Tricks, als die drei Trauzeugen mit Kater in Las Vegas nach dem verschollenen Bräutigam und Freund Doug suchen müssen.
Wenn ein MacGuffin weder mysteriös ist noch einen emotionalen Wert hat, dann sollte er wenigstens symbolisch für die Handlung stehen, damit er nicht ultra-beliebig und langweilig wirkt. Etwa so wie in «The Lego Movie».
Dort will der böse Lord Business mit Hilfe des Kragles, einer Superwaffe, die ganze Lego-Welt an Ort und Stelle kleben, um so für Ordnung zu sorgen. Dem entgegen stellen sich die Meisterbauer, die Kraft ihrer Gedanken alles bauen können, was sich mit Lego-Bausteinen bauen lässt – pures Chaos in den Augen Lord Business. Der legendäre Stein des Widerstands soll helfen, den Kragle zu vernichten.
Die MacGuffins: Der Kragle, eigentlich ein einfacher Sekundenkleber der Marke «Krazy Glue», und der Stein des Widerstands, der Deckel des Krazy-Glue-Sekundenklebers. Sie stehen für die zwei Haupt-Ideologien Legos, entweder ordentlich nach Anleitung zu bauen oder, der Vorstellungskraft freien Lauf lassend, irgendetwas zu bauen.
Vergleichen wir das mit «Justice League». Dort waren die MacGuffins drei Boxen unvorstellbarer Macht. Aber genauso gut hätten es Briefbeschwerer, Blumentöpfe oder Toaster sein können. Anders in «The Lego Movie»: Dort haben die MacGuffins Symbolkraft. Denn Lord Business will Konformität auf ewig wahren und mit dem Kragle alles und jeden an Ort und Stelle festkleben. Der Widerstand will dieser Konformität ein Ende bereiten, in dem sie ihr wortwörtlich den Deckel draufmacht.
So ist in «The Lego Movie» aus einem MacGuffin, der weder besonders mysteriös ist, noch einen emotionalen Wert hat, eben doch ein guter MacGuffin geworden, der auch das Thema der Handlung spiegelt.
Bild Alfred Hitchcock: Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»