

Perle vor die Sau geworfen: Ich probiere das neue Sony 600mm f/4 GM OSS aus

Ich hatte einen Nachmittag Zeit, um ein Objektiv zu testen, das einen fünfstelligen Betrag kostet. Wie werde ich dem gerecht? Gar nicht. Hier liest du, was passiert, wenn man einem Hobbyfotografen Overkill-Equipment in die Hand drückt.
Ich weiss, dass ich mit diesem Objektiv nicht so fotografieren kann, wie es im Bild oben zu sehen ist. Ansonsten weiss ich aber nicht allzu viel für jemanden, der ein Objektiv dieser Preislage testet. Für einen seriösen Test bin ich nicht nur zu wenig Profi, sondern habe auch zu wenig Zeit. Nämlich genau einen Nachmittag. Danach muss ich das kostbare Juwel bereits wieder zurückgeben.
Was dich hier erwartet, ist also kein Test für Profis, sondern ein Einblick für Neugierige.

Das neue Objektiv ist für Sport-, News- und Tierfotografie gedacht. Eine Sportveranstaltung, bei der man mich mit der Kanone reinlassen würde, fällt mir gerade nicht ein. Paparazzo spielen geht auch nicht, denn ich muss die Bilder hier zeigen können.
Also ab in den Zoo.
Zum Objektiv gehört ein Transportkoffer, der aussieht wie ein kleiner Rollkoffer. Nur dass er keine Rollen hat. Und weil der Koffer um wenige Millimeter nicht in das grösste Schliessfach passt,darf ich es mitschleppen. Es ist heiss und der Zoo überfüllt. Hyperaktive Kinder mit Koordinationsstörungen donnern in den Koffer hinein und maulen herum. Das wird eine lässige Safari.
Mit einem Gewicht von nur etwa 3.040 Gramm ist das neue Super-Teleobjektiv derzeit das leichteste seiner Klasse und bietet ein Mass an Mobilität und Flexibilität, das mit einem Objektiv seines Typs noch nie zuvor erreicht wurde.
Naja, es geht so mit Mobilität und Flexibilität. Nach wenigen Minuten Herumhantieren bin ich bereits geschafft. Ich bin jetzt so gut ausgestattet, dass es weh tut. Schlimmer als das Gewicht ist allerdings, dass ich wegen dem Transport im Koffer das Objektiv jedes Mal auspacken, die Kamera anschrauben, wieder abmontieren und alles einpacken muss. Theoretisch müsste ich auch jedes Mal die Streulichtblende an- und abschrauben. Darauf verzichte ich aber, denn das ist nicht wie bei einem gewöhnlichen Objektiv eine kurze Drehung und ein Klick, sondern die Blende muss mit einer zusätzlichen Schraube fixiert werden.
Ausserdem wirkt das Ding dann noch grösser und ich muss mir noch mehr mittelgeistreiche Bemerkungen von anderen Zoobesuchern anhören.
Scharfstellen kann ich mit diesem Objektiv erst ab einer Distanz von 4.5 Metern. In der Lori-Voliere musste ich mich ganz hinten an die Wand stellen, um diese Entfernung hinzukriegen – und dann durfte kein anderer Besucher vorne dran stehen.

Hätte ich doch das kleinere genommen!
Sony hat mir zusätzlich das neue 200-600mm mitgebracht, aber das konnte ich beim besten Willen nicht auch noch mitschleppen.
Wäre ich vernünftig gewesen, hätte ich das 200-600mm mitgenommen und das Monstrum im Büro gelassen. Für einen Zoobesuch wäre es eindeutig besser geeignet:
- Es ist «nur» gut 2 Kilogramm schwer.
- Die Sonnenblende muss nicht doppelt angeschraubt werden.
- Es kann schon ab 2.4 Metern scharf stellen.
- Es hat einen variablen Zoombereich von 200-600 mm. Das ist ganz praktisch, da 600 mm manchmal einfach zu stark ist.
- Es hat einen ganz normalen Objektivdeckel und nicht einen Lederhut wie das 600 mm.


Wozu dann überhaupt dieses Monstrum?
Der wichtigste Vorteil des grossen Objektivs ist die höhere Lichtstärke. Bei 600 mm erreicht es f/4, das kleinere Objektiv f/6.3. Dadurch kann die ISO-Empfindlichkeit und/oder die Belichtungszeit etwas gedrückt werden. Der Unterschied beträgt 1 1/3 Blendenstufen. Angenommen, ich benötige 1600 ISO mit f/6.3, so wären es mit f/4 nur 640 ISO.
Bei einem Zoobesuch lohnt es sich keinesfalls, für etwas mehr Lichtstärke all die Mühen auf sich zu nehmen. Aber am richtigen Ort eingesetzt, wird dieses Objektiv optimale Ergebnisse bringen. Ein solcher Ort wäre zum Beispiel ein Auto- oder Motorradrennen. Dort sind kurze Belichtungszeiten über weite Distanzen gefragt. Das Gewichtsproblem lösen Profis mit Einbeinstativen.
Wenn du wirklich die Offenblende von f/4 verwendest, muss der Fokus extrem genau am richtigen Ort sitzen. Ist er nur einen Zentimeter neben dem Auge, ist dieses bereits nicht mehr scharf.
Wenn es klappt wie hier beim Seehund, hast du dafür eine sehr gute Separierung vom Hintergrund. Das Wasser ist unscharf und lenkt wenig ab, die reflektierenden Wassertröpfchen bilden ein schönes Bokeh.


Hier gleich noch ein Beispiel, das ich mit Offenblende aufgenommen habe.


Sony hat mir die Kamera Alpha 9 zum Testen mitgegeben, die einen ausserordentlich guten Autofokus mit Tieraugenerkennung hat. Tatsächlich habe ich viel weniger Ausschuss produziert als bei früheren Zoobesuchen. Fun Fact: Beim Gecko hat die Kamera ums Verrecken nicht aufs Auge scharf stellen wollen, solange er am Baumstamm nach unten schaute. Als er sich umdrehte und nach oben schaute, klappte es perfekt. Erst viel später fand ich eine Erklärung dafür: Wahrscheinlich war ich ziemlich genau 4.5 Meter entfernt. Solange der Gecko nach unten zu mir schaute, war er ein kleines bisschen zu nah, danach nicht mehr.


Der Vollständigkeit halber: Das superteure Objektiv ist nicht nur so teuer wegen der höheren Lichtstärke. Auch der Autofokus soll zum Beispiel besonders schnell sein. Es ist ein GM-Objektiv, das M steht für Master, während das 200-600mm «nur» ein G-Objektiv ist.
Fazit
Das kurze Ausprobieren hat mir deutlich gemacht: Das Sony 600mm f/4 ist ein sehr spezialisiertes Objektiv, das 200-600mm ist wesentlich vielseitiger verwendbar. Am richtigen Ort eingesetzt, ist die Monster-Festbrennweite sicher perfekt; nicht aber für einen Zoobesuch. Da liefert es zwar auch hervorragende Bilder, aber die damit verbundenen Mühen stehen in keinem Verhältnis zum Resultat.


Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere.