Hintergrund

Der ewige Neujahrsvorsatz

David Lee
31.12.2021

Alle Jahre wieder nehme ich mir vor, weniger Zeit am Bildschirm zu verbringen. Geklappt hat es nie. Ich analysiere, warum das so ist und hoffe, dass der Versuch durch die Erkenntnisse endlich glückt.

Neujahr ist traditionell die Zeit für gute Vorsätze. Im 21. Jahrhundert hat sich neben Evergreens wie Abnehmen oder mit dem Rauchen aufhören ein weiterer Klassiker etabliert: Weniger Zeit im Internet, am Smartphone und ganz allgemein am Bildschirm verbringen.

Ein Dauerbrenner

Ich bin internetsüchtig, seit ich 1997 zum ersten Mal einen Chat-Raum betreten habe. Seither ist kein Jahr vergangen, in dem ich nicht versucht habe, das Problem einzudämmen. Ich habe am Einwählen via Telefonleitung festgehalten, weil das mühsam und teuer war. Ich habe bereits Anfang 2011 meinen Facebook-Account gelöscht – nicht nur, aber auch wegen meiner Sucht. Ich hatte sehr lange kein Smartphone, weil ich wusste, dass ich anfällig auf dessen magische Anziehungskraft bin. Ich habe mit dem Router und im Betriebssystem Sperrzeiten eingerichtet. Genützt hat das alles wenig.

Vorsätze einhalten ist schwer

Mit Vorsätzen ist es so eine Sache. Wir nehmen uns fast nur Dinge vor, die schwierig sind – für die einfachen brauchen wir keine Vorsätze, die meistern wir im Vorbeigehen. Oft haben wir keinen konkreten Plan, wie der grosse Vorsatz genau umgesetzt werden soll. Und nur sehr selten besteht wirklich eine Notwendigkeit. Es hat keine schwerwiegenden Konsequenzen, wenn wir den Vorsatz fallen lassen. Zwischendurch vergessen wir auch, warum uns das Vorhaben so wichtig ist. Dann denken wir: «Ach komm, was soll’s», und der Vorsatz geht den Bach runter.

Vorsätze sind also schwer einzuhalten. Im digitalen Bereich scheint es mir besonders schwierig. Denn mittlerweile habe ich meine schlechten Angewohnheiten zum grössten Teil abgelegt und mein Leben im Griff. Nur auf den digitalen Bereich trifft das nicht zu.

Warum es nicht klappt, die Bildschirmzeit zu reduzieren

Wieso ist es so schwierig, die Bildschirmzeit zu reduzieren? Ein Grund ist sicher die technische Entwicklung. Wäre das Internet heute noch so wie 1997, würde es mich wohl schon seit vielen Jahren langweilen. Die Begeisterung über jede neue E-Mail, jede ASCII-Art im Chat und jede selbstgebastelte Webseite hätte sich irgendwann gelegt. Ich würde ein um sich selbst drehendes @-Symbol so lange anschauen, bis eine meditative innere Ruhe einkehrt und ich zufrieden einschlafe.

Lego-Website von 1997. Suchtpotenzial: Null.
Lego-Website von 1997. Suchtpotenzial: Null.

Doch die explosionsartige Entwicklung der Möglichkeiten hat verhindert, dass ich mich daran gewöhnen konnte. Während Kaffeetrinken im Jahr 2022 dasselbe ist wie 1997, ist die Internet-Nutzung etwas ganz anderes.

Es sind aber nicht bloss die ständig wachsenden Möglichkeiten. Wenn ich versuche, meine Screen Time zu verringern, kämpfe ich alleine gegen einen übermächtigen Gegner: die gesamte Internet-Tech-Industrie.

Die Netflix-Doku «The Social Dilemma» hat das Problem auch jenen näher gebracht, die damit nicht vertraut waren. Google (aka Alphabet) und Facebook (neuerdings Meta) verdienen ihr Geld mit Werbung. Dazu verkaufen sie die Aufmerksamkeit der Nutzer. Das wiederum bedeutet, dass sie alles daran setzen, die Nutzungszeit und -Häufigkeit zu steigern. Sie wollen also genau das Gegenteil von dem, was ich will, wenn ich mir vornehme, die Bildschirmzeit zu reduzieren.

Das geht schon seit vielen Jahren so, und im Lauf der Zeit haben sich bestimmte Mechanismen als besonders wirkungsvoll herausgestellt. Psychologische Trigger werden gezielt ausgenutzt. Ein solcher Trigger sind Likes – eine Pseudo-Belohnung, die nicht wirklich befriedigt, weshalb wir immer mehr davon wollen. Oder dass ich oben an der Seite ziehen kann, um zu aktualisieren. Das funktioniert wie ein Spielautomat: Ich weiss, dass etwas passiert, aber ich weiss nicht, was. Vielleicht habe ich Glück, vielleicht nicht.

Diese Trigger treffe ich überall an – ich kann ihnen nicht ausweichen, indem ich Facebook meide.

Oh, eine neue Nachricht! Rot und glänzend! Was könnte das wohl sein?
Oh, eine neue Nachricht! Rot und glänzend! Was könnte das wohl sein?

Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit. Ich kann Versuchungen widerstehen – aber nicht jede Sekunde. Da die Geräte ständig einsatzbereit sind, wäre das jedoch nötig.

Im «Offline-Leben» läuft das in der Regel anders. Versuchungen treten in bestimmten Momenten auf, und wenn ich in diesem Moment stark bleibe, habe ich es überstanden. Nehme ich mir vor, eine Woche lang keinen Alkohol zu trinken, muss ich bloss im Laden der Versuchung widerstehen, Alkohol einzukaufen. Zuhause ist die Sache vom Tisch – ich muss dann nicht jede Minute widerstehen können. Versuch das mal mit dem Internet. Das ist dann wie wenn das Bier schon offen neben dem Sofa bereit steht. Keine Chance.

Homo fomo

Nehme ich mir vor, etwas nicht zu tun, habe ich das Gefühl, verzichten zu müssen. Sehr wichtig ist darum, mir in Erinnerung zu rufen, dass ich zwar etwas verliere, dafür aber auch etwas bekomme. Ich habe 15 Jahre lang versucht, keinen Alkohol zu trinken, wenn ich alleine bin. Geschafft habe ich es erst, als mir klar wurde, dass das pure Wellness ist. Das Gefühl der inneren Ruhe, der Klarheit, der Ausgeglichenheit: Es ist mehr Wert als ein Glas Bier.

Es wäre problemlos möglich, hin und wieder das Haus ohne Smartphone zu verlassen. Aber was, wenn sich genau dann jemand meldet? Ja, was wäre dann? Gar nichts wäre! Diese ständige Angst, etwas zu verpassen, ist einfach nur lächerlich. Und wir sind voll darauf trainiert. Der homo sapiens wird zum homo fomo (fear of missing out).

Neues Jahr, neuer Versuch

Was schliesse ich aus all dem? Erstens: Ich will die permanente Versuchung eliminieren. Dazu werde ich mehr Dinge tun, bei denen es unpraktisch, unpassend oder gar unmöglich ist, ständig aufs Smartphone zu gucken oder sonst zu checken, was im Netz läuft. Dazu gehören so ziemlich alle Arten von Sport. Oder Musik machen, insbesondere im Übungsraum ohne Handy-Empfang. Ich werde mehr auf Papier lesen und weniger am Bildschirm.

Vor allem aber werde ich mich täglich daran erinnern, dass es egal ist, wenn ich nicht immer sofort auf alles reagiere oder zwischendurch mal etwas nicht mitbekomme. Falls es deswegen doch mal ein Problem geben sollte, kann ich mein Verhalten erklären. Ich bin sicher, dass die meisten Menschen Verständnis haben, weil sie das Problem selbst gut kennen.

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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