Kritik

«Anno 117» im Test: perfekter Aufbau-Flow im alten Rom

Nach über sechs Jahren geht endlich der Nachfolger von «Anno 1800» an den Start. Der neueste Teil der Reihe überzeugt mich mit einer Mischung aus bewährtem Prinzip, frischen Ideen und grossartigem Spielfluss.

Stolz blicke ich auf mein Reich. Auf einem Hügel thront ein Kolosseum, darunter liegt meine Hauptstadt. Hier wohnen edle Patrizier, den Pöbel habe ich in einen Bauernweiler ausgelagert. Meinen Edelleuten mangelt es an nichts: Sie haben Badehäuser, Tempel und Bibliotheken. Aus fernen Ländern liefern meine Schiffe Vogelzungen in Aspik, Streitwägen und farbige Umhänge. Was für ein Leben!

In «Anno 117: Pax Romana» bin ich frisch ernannter römischer Statthalter und werde vom Kaiser entsandt, um neue Provinzen aufzubauen. Das Aufbaustrategiespiel von Ubisoft Mainz ist bereits der achte Titel der Reihe – und das merkt man: Nach über 40 Stunden Spielzeit gibt es nur wenig, das ich ändern würde.

Kurzweilige Kampagne als Vorspeise

Die Kampagne beginnt mit einer Entscheidung. Ich kann entweder in die Sandalen von Marcia oder Naukratius schlüpfen. Die Geschichte startet im römischen Latium, führt mich danach ins keltische Albion und schliesslich wieder zurück. Die Wahl der Spielfigur wirkt sich nur auf die Zwischensequenzen aus, die spielerischen Inhalte bleiben gleich. Spoiler gibt es hier natürlich keine, bloss eine Empfehlung: Nachdem ich beide Varianten durchgespielt habe, finde ich die Storyline von Marcia spannender.

Marcias Geschichte greift auch die untergeordnete Stellung von Frauen im alten Rom auf.
Marcias Geschichte greift auch die untergeordnete Stellung von Frauen im alten Rom auf.

Die Atmosphäre ist «Anno»-typisch unschuldig und kinderfreundlich, die Qualität der Kampagne höher als bei älteren Titeln der Serie. Dazu tragen auch die hübsch gemachten Zwischensequenzen bei. Besonders lange dauert die Story nicht – selbst in gemütlichem Tempo bin ich nach rund sechs Stunden durch und der Wiederspielwert ist gering. Damit fühlt sich die Kampagne an wie eine Vorspeise, die mir schrittweise die Spielmechanik näher bringt.

Aufbauen, ausbauen, optimieren

Der Hauptgang ist eindeutig das Endlosspiel. Hier kann ich wählen, ob ich in Latium oder in Albion starte. Ich entscheide mich für ersteres. Das spielerische Fundament des Spiels bilden wie immer Inseln, Zivilisationsstufen und Warenketten. Mit einem kleinen Startvorrat an Holz baue ich ein Dörfchen mit einigen Liberti – den Bewohnern der ersten Bevölkerungsstufe. Damit sie zu Plebejern aufsteigen, brauchen sie drei Dinge: Nahrungsmittel, Kleidung und öffentliche Dienste.

Obwohl ich auch diagonal bauen könnte, bleibe ich beim bewährten Reissbrett-Raster. Das sieht zwar langweilig aus, nutzt den Platz aber effizienter aus.
Obwohl ich auch diagonal bauen könnte, bleibe ich beim bewährten Reissbrett-Raster. Das sieht zwar langweilig aus, nutzt den Platz aber effizienter aus.

Wie ich diese Bedürfnisse befriedige, kann ich selbst entscheiden. Es hat jedoch Einfluss auf meine Inselattribute. Füttere ich meine Bauern zum Beispiel mit Sardinen, zahlen sie etwas mehr Steuern. Gebe ich ihnen stattdessen Haferbrei, passen mehr Personen in ein Wohnhaus. Optional kann ich ihnen auch beides bieten und damit alle Attributsboni einheimsen. Das ergibt besonders bei den ersten beiden Bevölkerungsstufen Sinn, da ich alle Güter direkt auf meiner Insel produzieren kann.

Mit höheren Bevölkerungsstufen wird alles komplizierter. Erstens haben Plebejer, Equites und Patrizier mehr Ansprüche, zweitens werden die dafür nötigen Produktionsketten komplexer. Für Sardinen brauche ich nur eine Fischerei. Für die Lyren meiner Patrizier muss ich Gold schürfen, das ein Schmied mit Hilfe von Holzkohle zu Barren einschmilzt. Damit verziert ein Vergolder seltenes Sandarakholz, bevor ein Lyramacher daraus schliesslich die Instrumente fertigt. Dazu braucht er zusätzlich Saiten, die ein Saitenmacher aus Schafssehnen herstellt.

Eine Lyra braucht drei Rohstoffe und mehrere Produktionsschritte.
Eine Lyra braucht drei Rohstoffe und mehrere Produktionsschritte.

Selbstverständlich finde ich nicht alle diese Güter auf meiner Hauptinsel, sondern muss sie per Schiff von anderen Inseln oder sogar aus dem fernen Albion importieren. Und nicht jedes Gewerbe arbeitet gleich schnell. Ein Goldwäscher schürft ganze vier Minuten, bis er genügend Nuggets für eine Ladung Golderz gefunden hat. Der Goldschmied schmilzt eine solche jedoch in nur einer Minute ein. Um Leerläufe zu vermeiden, brauche ich also vier Goldwäscher pro Schmied.

Daneben muss ich auch Dinge wie Gesundheit, Zufriedenheit und Brandschutz im Blick behalten. Sonst brechen in meinen Städten plötzlich Seuchen, Unruhen oder Feuer aus. Auch der Kaiser und andere Parteien verlangen hie und da meine Aufmerksamkeit. Sie fordern Waren, erklären mir den Krieg oder bieten mir Quests an.

Ungewohnte Freiheiten

Falls dir schon beim Lesen der Kopf raucht, kann ich dich beruhigen: Erstens ist die Lernkurve sanft und ich stehe kaum je unter Zeitdruck. Neue Produktionsketten lassen sich gemächlich eine nach der anderen aufbauen und ich muss mich nicht auf zehn Dinge gleichzeitig konzentrieren. Um den Überblick zu behalten, stehen mir zudem ausführliche Statistiken zur Verfügung. Dort sehe ich, ob meine Produktion ungefähr der Nachfrage entspricht.

Zweitens lässt mir das System mehr Freiheiten als in alten Anno-Spielen, um gewisse Güter auch einfach nicht zu produzieren. Ich kann zum Beispiel komplett auf einen Handel zwischen Latium und Albion verzichten. Dann brauche ich zwar komplexere Warenketten, dafür sind die Transportverzögerungen kürzer. Oder ich mache beides und erhalte mehr Boni. Solche Entscheidungen hat das Entwicklerteam so gut ausbalanciert, dass sich jeweils jede Option valide anfühlt.

In Albion kann ich entweder (wie hier) die keltischen Traditionen wahren, oder die Bewohner romanisieren. Ein Warenaustausch mit Latium bietet Vorteile, ist aber nicht zwingend.
In Albion kann ich entweder (wie hier) die keltischen Traditionen wahren, oder die Bewohner romanisieren. Ein Warenaustausch mit Latium bietet Vorteile, ist aber nicht zwingend.

Was mir im Vergleich zu «Anno 1800» mit all seinen DLCs positiv auffällt: Ich finde nach ein paar Tagen Pause viel leichter ins Spiel zurück, weil der Umfang überschaubarer ist und ich mich nicht an alle bestehenden Produktionen erinnern muss. Denn einmal funktionierende Versorgungsketten muss ich nicht mehr ständig aufstocken, wenn meine Stadt wächst. 10 000 Patrizier benötigen nur unwesentlich mehr Sardinen als 500 Liberti – die Bewohnerinnen der höheren Stufe naschen zwar auch ab und zu einen Fisch, ernähren sich aber hauptsächlich von edleren Speisen.

Insgesamt fühlt sich «Anno 117» flüssig und gut kalibriert an. Ich werde gefordert, aber nicht überfordert. Ganz nach dem Prinzip «einfach zu lernen, schwierig zu meistern». Der Schwierigkeitsgrad lässt sich nach Belieben anpassen. Willst du wie ich gemütlich siedeln, schaltest du Störfaktoren wie nervige Piraten aus. Willst du epische Schlachten führen, kannst du dir richtig schwere Gegner auf die Map pflanzen.

Götter, Wissenschaft und Krieg

Die militärischen Auseinandersetzungen sind untypisch für die sonst friedliche «Anno»-Serie, aber im römischen Setting wohl kaum wegzudenken. Sowohl zu Land als auch zu Wasser geben sich Legionen ordentlich auf die Mütze. Erwarte aber kein «Age of Empires» – die träge Steuerung der Truppen erinnert mich eher an «Manor Lords». So sind die Schlachten nicht schlecht, man merkt jedoch, dass die Kernkompetenz der Entwickler woanders liegt. Persönlich löse ich Konflikte deshalb lieber mit Wirtschaftskraft.

Auch in der Einstellung «Diszipliniert» sind meine Legionen manchmal sehr eigensinnig: Sie rennen kopflos auf Gegner zu und ich muss sie ständig zurückzwingen.
Auch in der Einstellung «Diszipliniert» sind meine Legionen manchmal sehr eigensinnig: Sie rennen kopflos auf Gegner zu und ich muss sie ständig zurückzwingen.

Eine weitere Neuerung sind die Gottheiten und der Technologiebaum. Sie funktionieren beide nach einem ähnlichen Prinzip: Wohnhäuser im Einflussbereich eines Heiligtums steigern den Glauben. Je mehr Glaube eine Stadt hat, desto stärkere Boni erhalte ich von meiner Schutzgottheit, die ich wählen und jederzeit wechseln kann. Ceres segnet zum Beispiel meine Landwirtschaft und gibt mir zusätzliche Bevölkerung. Wohnhäuser in der Nähe eines Grammaticus produzieren Wissen. Mit diesem erforsche ich Technologien – etwa eine grössere Reichweite für meine Marktplätze. Je weiter ich mich im Technologiebaum vorarbeite, desto länger dauert die Erforschung.

Ceres gehört zu drei von Anfang an verfügbaren Gottheiten. Andere wie Minerva oder Apollo muss ich erst im Technologiebaum erforschen.
Ceres gehört zu drei von Anfang an verfügbaren Gottheiten. Andere wie Minerva oder Apollo muss ich erst im Technologiebaum erforschen.

Mit diesen Mechaniken lassen sich meine Metropolen erheblich verbessern. In den ersten 20 Spielstunden schenke ich ihnen wenig Beachtung. Ich wähle einfach für jede Insel die erstbeste Gottheit und stelle sicher, dass die Forschung nie stillsteht. Wie an vielen Stellen von «Anno 117» bleibt es mir überlassen, wie viel Zeit ich in die Optimierung stecke. So sind Einsteiger nicht überfordert und Profis können sich trotzdem austoben.

Hübsch, aber sehr bunt

Latium und Albion sehen wunderschön aus, die zwei Regionen bieten eine riesige visuelle Vielfalt mit realistischen Lichteffekten. Auf meinen Strassen wuseln Bewohner hin und her und gehen ihren Tätigkeiten nach. Die Welt fühlt sich dadurch sehr lebendig an. Dazu trägt auch der passende und unaufdringliche Soundtrack bei.

Neu sind Tageszeiten und Wetter-Effekte. Beide sind ebenfalls hübsch gemacht, nerven mich aber manchmal: Die Nacht ist mir zu dunkel, die Sonnenuntergänge zu kitschig und der häufig strömende Regen in Albion zu trüb. Überhaupt finde ich die Grafik stellenweise überzeichnet und zu bunt. Sie verleiht dem Spiel manchmal einen Comic-artigen Look, der nicht zum antiken Setting passen will. Das fällt mir zum Glück nur auf, wenn ich bewusst darauf achte.

In normaler Spielgeschwindigkeit ist eine Minute in Echtzeit eine Stunde in Anno-Zeit. Ich kann den Tag-Nacht-Wechsel auch ausschalten und eine fixe Zeit einstellen.
In normaler Spielgeschwindigkeit ist eine Minute in Echtzeit eine Stunde in Anno-Zeit. Ich kann den Tag-Nacht-Wechsel auch ausschalten und eine fixe Zeit einstellen.

Mit der schönen Grafik steigen auch die Hardware-Anforderungen. Besonders, wenn du das Spiel in seiner ganzen Pracht mit hoher Auflösung, vielen Details und mit Raytracing geniessen willst. «PC Games Hardware» hat verschiedene Systeme durchgetestet und kommt zum Schluss: «Anno 117» braucht vor allem viel GPU-Leistung, die Anforderungen an die CPU halten sich in Grenzen. Auf meinem Test-PC mit Radeon RX 7900 XTX, Intel Core i5-13600K und 16 Gigabyte RAM erreiche ich in 4K mit allem Schnickschnack stabile 30 FPS, was bei einem Strategiespiel reicht.

«Anno 117: Pax Romana» erscheint am 13. November 2025 für PC, Xbox Series X/S und Playstation 5. Das Game wurde mir zu Testzwecken von Ubisoft zur Verfügung gestellt.

Fazit

Ein Spiel, das kam, sah und siegte

«Anno 117: Pax Romana» ist alles, was ich mir erhofft habe. Das antike Setting trifft genau meinen Geschmack. Die Kampagne ist kurz, aber kurzweilig, das Spielprinzip ist einfach zu lernen, aber schwer zu meistern. Schnell stellt sich das bekannte Suchtgefühl ein: Ich habe auch nach 40 Spielstunden den unbändigen Drang, eine neue Map zu starten, um eine noch schönere und effizientere Stadt zu bauen.

Jedes Detail fühlt sich durchdacht und richtig ausbalanciert an. Dank unzähliger Quality-of-Life-Features kann ich mich auf die spannenden Dinge konzentrieren: das Layout meiner Stadt, eine effiziente Versorgung und das Ausweiten meines Reichs. Die neuen Mechaniken zwingen mich zu interessanten Entscheidungen. Dabei drängt mir Ubisoft Mainz nie einen bestimmten Spielstil auf – stattdessen erhalte ich stets gleichwertige Optionen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben.

Ich habe bloss zwei kleine Kritikpunkte. Erstens: Latium und Albion sind zwar hübsch und lebendig – aber für meinen Geschmack etwas bunt und überzeichnet. Ich hätte mir eine ernsthaftere, weniger unschuldige Atmosphäre gewünscht. Zweitens: Das Kampfsystem macht mir mit seiner trägen Steuerung nicht besonders viel Spass. Beides trübt meinen Gesamteindruck aber kaum – «Pax Romana» ist für mich das beste «Anno» aller Zeiten.

Pro

  • tolles Setting, hübsche Grafik
  • herausragender Spielfluss
  • viele Freiheiten
  • wenig Fleissarbeit
  • interessante neue Mechaniken
  • fast perfekt ausbalanciert

Contra

  • etwas zu «lustig»
  • überzeichneter Look
  • träges Kampfsystem
Ubisoft Anno 117: Pax Romana (PS5, DE, FR, IT)
Game
Neu
CHF59.90

Ubisoft Anno 117: Pax Romana

PS5, DE, FR, IT

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Mein Fingerabdruck verändert sich regelmässig so stark, dass mein MacBook ihn nicht mehr erkennt. Der Grund: Wenn ich nicht gerade vor einem Bildschirm oder hinter einer Kamera hänge, dann an meinen Fingerspitzen in einer Felswand.


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