Das Darknet: Ein wichtiges Instrument für die Freiheit
Hintergrund

Das Darknet: Ein wichtiges Instrument für die Freiheit

Dieser Tage ist das Darknet erneut in allen Medien, nachdem ein Model angeblich von einer Darknet-Bande entführt und dann wieder freigelassen wurde. Politiker und Medien diskutieren ein Verbot. Im Gespräch fordert auch eine Redaktionskollegin ein Verbot des dunklen Netzes oder mindestens die rigorose Verfolgung der Verbrecher darin. Ein Diskurs.

Das Darknet klingt schon so böse. Die Mysterien und Mythen des Netzes abseits von Facebook, Reddit und Google lassen viel vermuten. Ähnlich der illegalen Bars der Prohibition in den 1930er-Jahren und der illegalen Raves und Goa-Parties der 1990er und 2000er sollen sich im Darknet nur die übelsten Dinge abspielen. Mit Drogen, Waffen, Menschen und Tieren werde gehandelt. Nur schon ein Klick ins Darknet führt zur totalen Vernichtung der heimischen IT. Die Kreditkartendaten und sämtliche persönliche Daten sind dann öffentlich und die Verbrecher mindestens schon vor der Haustür.

Kurz: Das Darknet ist ein gefährlicher Ort voll blutrünstiger Wilder, die es auf dich abgesehen haben.

Kann doch nicht sein. Wir hatten damals Napster und das noch junge Bittorrent, dem auch allerlei Schindluder nachgesagt wurde. Schon damals hätten wir alle in Flammen aufgehen sollen. Mindestens. Noch aber gibt es uns. Das westliche Abendland, dessen Untergang gerne mal heraufbeschworen wird, steht noch. Der nahe Osten ist auch noch da, genau wie Asien, Südamerika und der ganze Rest der Welt. Napster hat uns nicht getötet. Bittorrent hat nicht dazu geführt, dass die Demokratie gefallen ist.

Ich vermute also, das Darknet wird uns auch nicht alle umbringen. Oder entführen.

Ich bin sogar der Überzeugung, dass das Darknet notwendig ist. Es zu verbieten oder Kriminelle darin zu verfolgen wäre etwas, das einem grundlegenden Demokratieverständnis nicht entspricht und würde direkte, konkrete und unmittelbare Gefahr für Leib und Leben bringen.

Was ist das Darknet?

Das Darknet als technologisches Konstrukt kann kurz zusammengefasst werden: Alles, was nicht von Suchmaschinen wie Google gelesen, verstanden und als Suchresultat öffentlich wiedergegeben werden kann.

Dieser Definition nach ist dein E-Mail-Posteingang ein bisschen Darknet. Dein internes Firmennetzwerk? Darknet. Dein Facebook-Feed? Auch Darknet.

Der Begriff existiert schon seit den 1970er-Jahren, wo die ersten Computernetzwerke entstanden sind, die nicht ans ARPANET – dem direkten Vorgänger des heutigen Internets – angeschlossen waren. Seither hat sich abseits des normalen Internets viel getan und heute ist das Darknet ein mehr oder weniger unabhängiges Overlay Network, das sich der Anonymität verschrieben hat. Overlay Networks sind Netzwerke, die auf der Basis einer anderen Netzwerktechnologie – im Falle des Darknets auf Basis des normalen Internets wie wir es kennen – erbaut wurden. Overlay Networks gibt es für allerlei Zwecke, da die Funktionen des Netzwerks genau gesteuert werden. Unerwünschte Funktionen können schon bei der Definition des Netzwerkstandards deaktiviert werden.

Das Tor Network: Das Darknet der Medien

Wenn die Medien dieser Tage über das Darknet reden, so meinen sie nicht den privaten Facebook-Feed oder das E-Mail-Postfach, sondern das Tor-Netzwerk. Dabei handelt es sich um eine recht clevere Konstruktion des Tor Projects, einer Non-Profit-Organisation mit Sitz in Massachussetts, USA.

Das Tor Project kümmert sich hauptsächlich um die Entwicklung und Erhaltung des Tor Browsers. Der Tor Browser ist ein Overlay Network, das aus sogenannten Nodes besteht. Wenn du dich mit einer Site verbinden willst, egal welchen Ursprungs du bist und welcher Destination die Site ist, sucht sich der Tor Browser einen zufälligen Weg über Tor Nodes. Diese Verbindung ist verschlüsselt und der einzige ungesicherte Schritt ist der letzte: Der von der Tor Exit Node zur Destination.

Illustration einer Tor Verbindung. Bild: torproject.org/eff.org

Im Zuge dieses Pfades kennen die Tor Nodes nur den letzten Schritt, also von welcher Node der Pfad kommt, nicht aber dessen Anfang. Keine Node kennt je den gesamten Pfad. Jeder Sprung von Node zu Node ist mit einer eigens für diese Verbindung ausgehandelten Verschlüsselung versehen, was die Nachverfolgung des Pfades extrem schwierig bis unmöglich macht.

Nebst dem Tor Browser bietet das Tor Project weitere Ressourcen an, die deine Anonymität online wahren sollen.

  • Tails: Ein voll funktionsfähiges Betriebssystem, das sich keinerlei Userdaten merkt
  • Orbot: Im Wesentlichen Tor für Android
  • Arm: Ein Command Line Tool zum Monitoring des Tor-Netzwerks
  • Pluggable Transports: Umgeht Zensur, wenn Tor blockiert ist
  • OONI: Eine Weltkarte, die Internet-Zensur ans Tageslicht bringt

Für uns Schweizer ist die Notwendigkeit von Anonymität im Internet nur noch schwer nachvollziehbar, könnte aber bald wieder relevant werden. All die, die in den frühen Tagen des öffentlichen Internets im Netz unterwegs waren, erinnern sich. Wir haben nie einen echten Namen verwendet, sondern uns hinter Nicknames verborgen. Wohnort haben wir selten bis nie angegeben. Ebay haben wir mal sicher misstraut. Ein soziales Netzwerk wie Facebook, das auf dem Prinzip der Klarnamen operiert? Undenkbar!

Heute ist das anders. Selbst wenn Nicknames gewählt werden sind die kaum mehr als etwas, das angezeigt wird. In zusehends aussterbenden Foren werden Posts geschrieben in denen sich User mit Sätzen wie «Hoi mitenand, ich bin MetallicaFan1973 aber im echten Leben heisse ich Thomas» beginnen. Dann wird noch schnell der Wohnort angegeben und im nächsten Thread werden Bilder vom Konzert und Selfies gepostet. Mit Anonymität ists da nicht weit her.

Aber in der Schweiz haben wir abgesehen von den statistisch selten auftretenden Stalkern wenig zu befürchten. Wir haben keine Terroristen, die uns nach dem Leben trachten. Der Staat ist uns ebenfalls gut gesinnt. Rechts- und linksextreme Fraktionen können ihre Meinung öffentlich kundtun, die Demo am 1. Mai gleicht einem Volksfest und am 1. August finden alle die Nazis auf dem Rütli doof, aber keiner würde die kahlköpfigen Bomberjackenträger nur für das Dasein verfolgen. Das zeigt sich auch in der Art, wie die Schweiz (noch) mit dem Internet umgeht. Ein Blick auf den Schweizer OONI-Eintrag bestätigt: Die Schweiz hat keine zensierten Websites. Der Zugang zu Informationen aller Art steht uns frei. Die Schweiz ist auf der Weltkarte OONIs blau.

Wer also braucht Tor? Nur Verbrecher und Mörder?

In der Türkei aber sieht das anders aus. Auf der Karte ist es tiefrot, die Liste der zensierten Websites ist lang.

  • Pornosites
  • Sites über sexuelle Aufklärung
  • Dating-Sites für Homosexuelle
  • Filesharing Sites
  • Streaming Sites
  • Glücksspielportale
  • Sites über die Aufklärung über Drogen, insbesondere Cannabis
  • Geocities
  • Websites mit politisch divergierender Meinung, unter anderem Hizb ut-Tahrir

Ferner ist die Türkei dafür bekannt, im politischen Krisenfall soziale Netzwerke, Google und allerlei Newsportale auf nationaler Ebene zu sperren. So versucht das Regime Recep Tayyip Erdogans die Organisation von Protesten und Aufständen schon im Keim zu ersticken. Wenn keiner weiss, dass da ein Aufstand ist, dann geht auch keiner hin. Wenn keiner weiss, dass die Schergen des Regimes Unschuldige attackieren, dann regt sich auch keiner auf.

Damit die Kommunikation abseits den Machenschaften der Türkischen Regierung aufrecht erhalten werden kann, sprayen Dissidenten DNS-Adressen an Hauswände. Der Text heisst übersetzt «Dein Vogel (Twitter) soll zwitschern».

Bilder wie die von Neda Agha-Soltan, die am Rande einer Demonstration im Iran anno 2009 von einem Regierungsfreund erschossen wurde. Das Video hat global eine Welle der Sympathie und der Erschütterung ausgelöst. Ihr Tod ist laut Time Magazine der «meist bezeugte Tod der Menschheitsgeschichte». Neda Agha-Soltan wurde 26 Jahre alt. Ihre letzten Worte waren «Ich brenne! Ich brenne!»

Helfer versuchen noch, Neda Agha-Soltan zu helfen. Sekunden später ist sie tot

Es sind Menschen in Krisengebieten, in Ländern der systemischen Unterdrückung und der politischen Aufruhr, die Tor brauchen oder gar haben müssen. Der Unterstützung dieser Menschen hat sich das Tor Project verschrieben. Die Öffentlichkeit muss Bilder wie die von der unschuldigen Neda Agha-Soltan, die eigentlich gar nicht an der Demo beteiligt war, sehen. Die Dissidenten in der Türkei sollen und dürfen ihre Meinung frei äussern dürfen. Der arabische Frühling hätte nie stattgefunden, wenn es das Darknet nicht gegeben hätte, in denen Menschen sich anonym und vor dem Regime sicher hätten organisieren können. Bilder wie die folgenden hätten nie den Weg an die Öffentlichkeit gefunden und der Protest wäre auf globaler Ebene wohl ungehört geblieben.

Ja, aber was ist denn mit all den Mördern und Dealern?

Trotz all der Vorteile und der Tatsache, dass das Darknet ein für die Demokratie unabdingbares Gut ist, ist nicht zu bestreiten, dass sich im Darknet viel Illegales abspielt. Unter dem Deckmantel der Anonymität kann sich per Definition jeder verstecken. Auch Verbrecher. Diese sind natürlich auch im Darknet vertreten.

Ross Ulbricht alias DreadPirateRoberts hat über Jahre hinweg den Darknet-Marktplatz Silk Road geführt. Auf der Website, die du dir als eine Art eBay vorstellen kannst, wurde unter anderem auch mit Drogen, Pornographie und Waffen gehandelt. Und auch mit Kunst und Kleidung.

Ein Screenshot des Portals Silk Road

Selbst wenn Ulbricht nie in direkten Kontakt mit Drogen und anderem gekommen ist, so hat er sich doch des Drogen- und Waffenhandels schuldig gemacht und sitzt lebenslang hinter Gittern. Er ist aber nicht direkt via das Darknet identifiziert worden, sondern weil er seine eigene Operation nicht gut genug abgesichert hat. Herkömmliche Ermittlungsmethoden haben zum Erfolg geführt.

Im Gespräch mit der Redaktionskollegin kam das Argument «Die Polizei muss die Mörder und Entführer jagen und ausmerzen! Besser noch: Das ganze Darknet sollte gleich verboten werden!»

Dass sich Freiheitskämpfer mit Drogendealern und sonstigen Schreckgestalten des 21. Jahrhunderts die Technologie teilen müssen ist genau so notwendig, wie der Antifa-Aktivist aus Winterthur sich ein Land mit dem Berner Pnos-Anhänger teilen muss. Damit eine Demokratie entstehen und leben kann, ist es notwendig, dass sich scheidende Meinungen und Weltansichten in Punkto Moral und Ethik auf einer Ebene begegnen können, ohne sich verfolgt fühlen zu müssen.

Trotzdem darf dem Verbrechen nicht einfach freie Hand gelassen werden. Im Darknet aber spielen zwei Mechanismen zusammen, die eine Verfolgung schwierig machen.

Es gilt in jeder gesunden Demokratie die Unschuldsvermutung. Nur weil jemand einen Auftragsmord im Internet anbietet, heisst das noch lange nicht, dass diese Person tatsächlich jemanden getötet hat oder töten wird. Das selbe kann über Kokain, Entführungen, Kinderpornografie und sonstige grässlichen Dinge gesagt werden. Nur weil sie angeboten werden, heisst das nicht, dass die Ware existiert. Ein Trick im Darknet ist es, dass Waren angeboten werden, Zahlungen in Empfang genommen werden und dann erfolgt keine Gegenleistung. Denn keiner wird je zur Polizei gehen und Anzeige nach dem Schema «Der Typ hat mir mein gekauftes Heroin nicht geliefert» erstatten.

Heisst das, dass im Darknet alles fake ist? Nein, natürlich nicht. Waffen, Drogen und wohl auch Menschen werden gehandelt und der Handel ist lukrativ. Jüngst hat die Deutsche Kriminalpolizei die Kinderpornografie-Seite «Elysium» gesprengt. Die Site hatte zum Zeitpunkt der Razzia etwa 87 000 User. Das Ziel des Forums war es, Kinderpornografie auszutauschen, sowie Daten und Treffpunkte für den Missbrauch von Kindern festzulegen. Der mutmassliche Betreiber der Site, ein 39-jähriger Deutscher, wurde festgenommen. Von den 87 000 Nutzern sind 14 mutmassliche Nutzer festgenommen worden, fünf davon aus Deutschland, einer aus Österreich. Auch hier waren es wohl herkömmliche Ermittlungsmethoden, die zum Fahndungserfolg geführt haben und nicht die Enttarnung einzelner Darknet-User.

Die sensationalistischen Berichte über die üblen Machenschaften, die im Darknet vor sich gehen, sind mit einer gewissen Skepsis hinzunehmen. Wenn ich die Kommentarspalten der Artikel über den angeblichen Entführungsfall einer Britin und dessen journalistische Aufarbeitung fernab jeden technischen Interesses lese, dann wage ich zu behaupten, dass diese Skepsis nicht vorhanden ist. Ähnlich wie das technologische wie auch soziopolitische Verständnis für das freie Internet.

Es soll im Darknet ermittelt werden. Verbrechen müssen in einer gesunden Gesellschaft ohne Emotion und persönlicher Befangenheit geahndet werden. Aber hier spielt ein zweiter Faktor ein: Wenn es der Polizei gelingt, einen Kinderschänder im Darknet mit technologischen Mitteln festzusetzen, dann kann die Regierung Erdogans dieselbe Methode verwenden, um Freiheitskämpfer festzusetzen.

Soll das Darknet verboten oder überwacht werden? Oder plakativer: Sind 14 verhaftete Pädophile es wert, dass hunderttausende Freiheitskämpfer in Angst leben müssen? Denn das ist eine der Fragen, die wir uns als Gesellschaft der ersten Welt stellen müssen. Wen schützen wir wie? Und während wir die einen schützen, wen bringen wir in Gefahr?

Und endlich stellt sich die Frage, die so alt ist wie die Menschheit: Wie viel Freiheit wollen wir für die Sicherheit aufgeben, die dann oft nur Illusion ist?

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Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.


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